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«Schwarzenbach»-Abstimmung (Überfremdungsinitiative) 6./7. Juni 1970 © Flugblatt

Feindbild Mann – fremd, jung, alleinstehend.

Jürgmeier /  Immer wieder wird beklagt, die Mehrheit der aktuellen Flüchtlinge seien junge Männer. Das macht sie verdächtig. Eine Spurensuche.

In diesen globalisierten Zeiten müssen sich, nach Geld & Waren, auch Menschen flexibel & mobil zeigen. Das heisst, sich im Interesse fremder Geschäfte und um der eigenen Karriere willen rund um den Erdball verschieben (lassen). Wenigstens solange ihr Geld oder ihre Arbeitskraft gebraucht wird. Die Menschen selbst sind nicht immer willkommen. Wir wollen nicht, dass unsere Welt durch fremde Kulturen, Wertesysteme und Gerüche infiltriert wird. Wir wollen unter uns bleiben. Wobei dieses «Wir» ein äusserst heterogenes, widersprüchliches und zerstrittenes ist.

Zugegeben, wenn ich so mit mir allein zusammensitze und in den Sternenhimmel schaue, wünsche ich mir manchmal auch eine Schweiz oder noch lieber gleich eine ganze Welt voller Gleichgesinnter & Ungläubiger, die alle meine (gegenderte) Sprache sprechen. Alle Wissenden & Gläubigen, gleich welcher Religion & Wissensgemeinde, sind mir suspekt. Ohne sie gäb’s richtig viel Platz. Dann dürften nicht alle kommen, die das, womöglich, gar nicht wollen, und vor allem – es müssten viele gehen, die schon da sind oder lange vor mir da waren. Wenn die Welt meine Welt, die Schweiz meine Schweiz wäre. Aber wenn die Sternschnuppe weg ist, werde ich wieder ganz vernünftig & tolerant. Nur insgeheim hoffe ich noch ein klein wenig, irgendwann werde der aufklärerische Zweifel sie allealle befallen.

Wer nicht einmal eine elektrische Pfeffermühle besitzt, muss ein Wirtschaftsflüchtling sein

Ganz unabhängig davon, wer ganz real von was und wem überfordert ist oder es noch werden könnte: Flüchtlinge müssen Vorstellungen genügen sowie Bildern entsprechen, damit sie als echte anerkannt werden und das «Welcome» ein nachhaltiges bleibt. Nicht nur bei jenen, die sie am liebsten umgehend dahin zurückschicken würden, wo sie gerne glücklich & zufrieden bis ans Ende ihrer Tage gelebt hätten, sondern auch bei denen, die ihnen an Bahnhöfen zujubeln.

Dankbar sollen sie sein, auch für das abgelaufene Jogurt, das wir normalerweise mit schlechtem Gewissen und ungeöffnet in den Abfall werfen, oder für die alten Jeans (ohne modische Schlitze & Risse), die wir aus dem Sack für die Altkleidersammlung gefischt haben (*). Wer Markenturnschuhe, Goldschmuck oder Lederjacken trägt und einen dieser bequemen Outdoor-Rucksäcke umgeschnallt hat, kann nicht wirklich in Not sein. Unsere SozialhilfeempfängerInnen können sich schliesslich auch kein Rindsfilet, Seidenjackett oder Auto leisten. Und wer nicht einmal eine elektrische Pfeffermühle besitzt, also echt arm ist, muss ein Wirtschaftsflüchtling sein – auf der Suche nach einem besseren Leben, aber nicht an Leib & Leben bedroht.

Flüchtlinge sollen bescheiden, höflich und friedfertig, sollen rundum bessere Menschen sein als wir es sind. Wir brauchen schliesslich keine fremde Hilfe. Sie sollen so sein, wie wir uns Flüchtlinge vorstellen. Und vor allem sollten es nicht so viele junge Männer sein. Immer wieder wird es, vorwurfsvoll, betont – zwei Drittel, vielleicht sogar 80 Prozent der Flüchtenden seien Männer.

«An dieser Stelle sollte eigentlich eine Frau porträtiert werden»

Als die Neue Zürcher Zeitung Mitte September 2015 dem «Flüchtlingsstrom», durchaus verdienstvoll, ein Gesicht zu geben versucht, veröffentlicht sie auf zwei Zeitungsseiten elf Männersteckbriefe. Die AutorInnen erinnern zwar daran: «Auch wenn diese Porträts dies suggerieren mögen, flüchten keineswegs nur Männer.» Machen aber für die männliche Galerie den patriarchalen Hintergrund der elf Menschen, die «erzählen, warum Deutschland das Ziel ihrer Flucht ist», verantwortlich. «An dieser Stelle sollte eigentlich eine Frau porträtiert werden», steht im zwölften Feld, aber: «Die syrischen Ehefrauen durften zwar alle reden, und ihre Stimme hatte allem Anschein nach auch Gewicht… Doch für das Bild stellten sich fast ausschliesslich die Männer zur Verfügung, allenfalls eine Familienfoto wäre gestattet. Ein Bild von der Frau als Vertreterin der Familie stand offenkundig ausser Diskussion …»

Und weil Bilder (heutzutage) stärker zu wirken scheinen als Worte – auch wenn diese präzisieren –, provozieren diese elf Männerköpfe vierfarbig den Eindruck, uns drohe ein Rückfall in Zeiten, in denen auch bei uns in der Öffentlichkeit nur ein Geschlecht zu sehen war. Wie sehr sich die NZZ-AutorInnen darum bemüht haben, auch Frauen ins Bild zu bringen, ist nicht klar. Ihre Sätze erinnern ein wenig an die Ausflüchte, weshalb bei bestimmten Themen selbst in unseren emanzipierten TV-Runden nur Männer sitzen. Jonas Projer beispielsweise macht am Freitagabend, 25.9.2015, etwas irritiert, darauf aufmerksam, dass in der Arena «Jungparteien zur Wahl» im inneren Kreis mit den Präsidenten der vier grössten Schweizer Parteien und dem Moderator selbst ausschliesslich fünf jüngere Männer standen.

Der junge Mann entspricht nicht unserem Flüchtlingsideal, obwohl er die perfekte & flexible Fachkraft (ohne Anhang) sein könnte, die auf den (künftig) ausgetrockneten Arbeitsmärkten unserer «überalterten» Gesellschaften gesucht sein wird. Im Moment wird er als Beleg dafür benutzt, dass von den Hunderttausenden, die es nach Europa schaffen, die wenigsten wirklich hilfsbedürftig sind. Die Bilder junger Männer wecken offensichtlich Phantasien, auch beklemmende & bedrohliche.

Sie nehmen den echten Flüchtlingen den Platz weg:

«80% junge Männer», beklagt Boris Palmer bei Maybritt Illner am 24.9.2015, «das heisst, wir lassen die Alten, die Kranken, die Behinderten in den Lagern zurück.» Der grüne Oberbürgermeister der Stadt Tübingen – der ganz konkret damit beschäftigt ist, Aufenthaltsplätze für die Willkommenen zu organisieren – möchte das momentane «survival of the fittest», wie er es nennt, durch legale Wege nach Europa ersetzen, damit nicht nur die Starken zu uns kommen.

Sie sind potenzielle Mörder oder Feiglinge:

Immer wieder wird das «Radikalisierungspotenzial» junger Männer beschworen. (Zu hoffen, dass sich der Staatsschutz bei seinen Observationen nicht zu sehr von solchen Geschlechterklischees leiten lässt.) In privatem Rahmen höre ich den Satz, diese jungen Männer im wehrpflichtigen Alter sollten ihr Land verteidigen statt zu fliehen, und viele von ihnen seien vermutlich gefährlich. Das heisst, die Männer, die aus den bekannten Kriegsgebieten zu uns kommen, sind entweder Schläfer oder Fahnenflüchtige. Richtige Männer kämpfen, phällen und phallen im Krieg. Wer den Weg in die Gemütlichkeit wählt, ist ein Drückeberger oder Terrorist. Beide wollen wir hier nicht.

Nur tote Männer sind richtige Männer

Im auch bei uns noch wirksamen Konzept «Mann» machen Gewalt & Tod Männer. Das ist, zum Beispiel, im Hollywoodmärchen «Titanic» eindrücklich inszeniert worden: Rose, die Frau, überlebt die Katastrophe. Träumt ein Leben lang von ihrer grossen Liebe. Heiratet eine farblose Figur und wird steinalt. Cal, der aufgeblasene, rücksichtslose Verlobte, kauft sich einen Platz in den für Frauen sowie Kinder reservierten Booten und kommt davon. Jack, Rose‘s grosse Liebe, stirbt und wird damit vor der Entzauberung zum real existierenden Mann bewahrt, der früher oder später am Allmachtskonzept «Mann» versagen müsste.

Der Mann & Held darf nicht vom Ort der Katastrophe in den gewöhnlichen Alltag zurückkehren. Denn, so wird es an Cal, dem widerlichen Verlobten von Rose demonstriert: Nur Feiglinge & Charakterlumpen überleben. An Jack aber wird klar gemacht: Nur ein toter Mann ist ein richtiger Mann. Cal – das sind die jungen Männer, die nach Europa kommen. Die, wie «feige Weiber», abgehauen sind statt männlich & tapfer in den Krieg zu ziehen.

Und schliesslich sind junge alleinstehende Männer eine erotische Bedrohung:

Vor allem auch, weil sie – wie die Asylbewerber – nicht zum (Arbeits-)Dienst verpflichtet sind, nicht erwerbstätig sein dürfen. Ein Flugblatt aus dem Abstimmungskampf über die so genannte Schwarzenbach-(Überfremdungs-)Initiative im Jahre 1970 zeigt Schweizer Männer in Uniform sowie eine Frau mit Tochter, die ihrem Mann zum Abschied winkt. Um sie herum stehen drei schwarzhaarige Männer. Die Überschrift: «Du bist dienstpflichtig, der Fremdarbeiter nicht.» Da wird der Sexualneid auf die Fremden offensichtlich, die in einer eigenartigen Mischung aus Faszination & Ablehnung immer wieder als besonders sexuell phantasiert worden sind und es immer noch werden. So privat kann das Politische sein.

Flüchtige junge Männer entsprechen weder unseren Flüchtlings- noch Männlichkeitskonzepten. Paradoxerweise reagieren wir ausgerechnet auf jene – denen wir mehr oder weniger offen unterstellen, sie würden, wenn sie in Massen kämen, unsere emanzipierten Gesellschaften in dunkle Vergangenheiten zurückstossen – mit ausgesprochen traditionellen Geschlechtervorurteilen. Richtige Männer sind Kämpfer oder Täter, aber keine Opfer. Das muss gegen die schleichende Islamisierung verteidigt werden.

(*) Alex Reichmuth – Von wegen dankbar – Weltwoche, 24.9.2015:
«In Medienberichten erscheinen Migranten fast ausnahmslos als wehrlose Flüchtlinge, die um jede Hilfeleistung froh sind. Die Realität ist weniger schön: Asylanten treten mitunter selbstbewusst auf, stellen dreiste Forderungen und sind gar bereit, diese mit Randale durchzusetzen…
Der französische Sender TF1 begleitete eine Frau, die sich der Hilfe für Migranten in Calais am Ärmelkanal verschrieben hat. In einer Szene bringt sie Packungen mit Raviolibüchsen in ein Camp von Sudanesen. Doch diese reagieren aufgebracht: Das Mindesthaltbarkeitsdatum der Waren sei abgelaufen. Ein Migrant leert die Ravioli provokativ vor der Flüchtlingshelferin aus. ‹Das schockiert mich, das ist eine Schande›, sagt diese in die Kamera…
Natürlich – und das sei ausdrücklich betont – verhalten sich nur wenige Migranten dreist oder gar gewalttätig. Die meisten Asylbewerber zeigen sich dankbar für Hilfeleistungen. Doch bei Hunderttausenden oder bald Millionen von Menschen, die nach Westeuropa drängen, stellt bereits eine kleine Prozentzahl an renitenten Migranten ein beachtliches Problem dar…»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

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Müssen sich Ideale der Realität anpassen? Muss sich die Politik an der Realität ausrichten oder umgekehrt?

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Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende

Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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Eine Meinung zu

  • am 8.10.2015 um 12:24 Uhr
    Permalink

    Gelungener Artikel. Selbst in Gesellschaften, die sich für aufgeklärt und emanzipiert halten, sind solche archetypischen Rollenbilder fest verankert. Problematisch ist das vor allem darum, da sie nicht Gegenstand bewusster Relexion sind.

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