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Fussballstadien machen Männer: Zidanes Kopfstoss in Bronze © Picbymohan/flickr/cc

Die Schule macht keine Männer (II/II)

Jürgmeier /  Mann sein heisst, nicht Frau sein = Grundformel von Männlichkeit und eine Ursache der viel beklagten Schulschwächen von Knaben.

  • Lesen Sie hier, falls verpasst, den ersten Teil des Zweiteilers «Die Schule macht keine Männer».

Lernen ist ganz grundsätzlich eine Kränkung. Lernen setzt das Eingeständnis voraus, (noch) nicht zu wissen, (noch) nicht zu können, und schon gar nicht alles. Lernen macht (auch) Angst, heisst, sich ins Ungewisse zu wagen, sich unbeholfen zu zeigen, die Kontrolle aufzugeben. Lernen macht (auch) hilfsbedürftig, bedeutet, bei der Erschliessung von Welten auf Unterstützung anderer angewiesen zu sein. Angst und Hilfsbedürftigkeit aber widersprechen dem «Konzept Mann».

Die tendenziell unterschiedlichen Reaktionen von Mädchen beziehungsweise Buben auf die Situation des Lernens müssen (auch) als Teil der Vergeschlechtlichung gesehen werden. Während Mädchen&Frauen sich mehrheitlich bemühen, bessere (Anpassungs-)Leistungen zu erbringen, begehren Buben tendenziell auf, versuchen, wie ein Mann, erlittene oder befürchtete Verletzungen durch Abwertung der Schule zu verdrängen und ungeschehen zu machen. Schule ist eh scheisse. Störendes und aggressives Verhalten kaschiert die dahinter liegende Not sowie die Angst vor dem Versagen. Leistungsschwäche, Disziplinprobleme und Gewalt sind häufig Versuche, Männlichkeit zurückzugewinnen, wo sie gefährdet ist.

Mann sein heisst, nicht Frau sein
Angst, Schwäche und Hilflosigkeit werden generell mit dem Prädikat «weiblich» in Verbindung gebracht. Die grösste Angst des Buben&Mannes ist es nach wie vor, als feminin zu gelten. Der Bub&Mann wird in Abgrenzung von «der Frau» konstituiert. Mann sein heisst, nicht Frau sein.

Während Mädchen, so Antje Schrupp, eine deutsche Journalistin&Philosophin, «kein Problem damit haben, sich mit männlichen Protagonisten zu identifizieren», hätten es Buben nie gelernt, Frauen als Vorbild zu sehen und zu akzeptieren. Sie würden Frauen immer als «Nicht-Ich», als das «Andere» wahrnehmen. Das hat auch damit zu tun, dass Frauen traditionellerweise zur Nicht-Bürgerin oder zum Kind entwertet wurden, dass sie lange im sozioökonomischen Abseits gelebt haben. Während die Befreiung «der Frau» auf das Männliche hin – wie sie in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat – mit höherem Status und mehr Macht lockt, drohen dem Mann&Helden, umgekehrt, bei der Befreiung auf das Weibliche hin der soziale und ökonomische Absturz sowie die Entwertung als «feiges Weib». Deshalb haben Männer, bisher, Geschlechtergrenzen nicht im gleichen Ausmass überschritten wie Frauen.

Wenn die Schule als öffentliche Bildungs- und Erziehungsinstitution, vergleichbar dem privaten Haus, zunehmend als weibliche Welt erscheint, müssen sich ihr Buben – in Erfüllung der Grundkonstruktion, nicht Frau sein – verweigern. Auch wenn Lehrerinnen für Buben aus den genannten Gründen keine geeigneten Identifikationsobjekte beziehungsweise Vorbilder sind, ist das nicht primär das Resultat der realen Verweiblichung des Lehrkörpers. Selbst Largo betont, die von ihm beklagte Diskriminierung der Buben habe «nichts mit dem Geschlecht der Lehrpersonen zu tun». Entscheidend ist die symbolische Verweiblichung der pädagogischen Tätigkeit beziehungsweise Institution selbst. Ähnliches gilt für den Bereich der Psychologie, den Allan Guggenbühl, selbst Psychologe, radikal weiblich konnotiert: «Der Knabe wird kastriert, wenn er sich ‹verpsychologisieren› lässt.» Schreibt er in «Männer – Mythen – Mächte». Kein Wunder, wenn sich richtige Buben&Männer gegen psychologische Hilfe und pädagogische Betreuung sträuben.

Im Film «Dangerous minds» schleudert ein Jugendlicher der Lehrerin, die ihm helfen will, entgegen: «Wie zum Teufel wollen Sie mich vor meinem Leben bewahren!» Und einer der erwähnten jugendlichen Störer verstummt in Beratungsgesprächen immer wieder. Scheinbar «verstockt» verweigert er es, darüber zu reden und nachzudenken, was ihm helfen könnte. «Das ist bei mir so.» Sagt er nur. Oder einmal gar: «Bei mir helfen nur Prügel.» In einem Gespräch mit dem Lehrbetrieb sehe ich die Trauer in seinem Gesicht, als wir auf einen Kern des Problems kommen – er traut sich nichts zu, schätzt sich selbst gering, kann Gelungenes nicht feiern, weil er nicht sieht, was er kann und ist. Ein störender Schüler auf dem langen Weg der Befreundung mit sich selbst. Er wird Hilfe noch manchmal «verhängen» oder zurückweisen, aus dem Gefühl heraus ihm sei nicht zu helfen, oder weil er glaubt, ein rechter Mann müsse das alleine schaffen.

Taten statt Worte
Das «Konzept Mann» wird – vermutlich auch als Reaktion auf den Eintritt der Frauen in die universitäre, insbesondere die geisteswissenschaftliche Welt – ins Theorie- und Intellektuellenfeindliche getrieben. Wo das Denken demokratisiert wird, studierte Frauen zur Normalität werden, verkommt die Akademisierung zur Diffamierungsformel. Da funktioniert die Konstituierung männlicher Grandiosität qua geistiger Überlegenheit nicht mehr. Da kann die Grundformel «Mann sein heisst, nicht Frau sein» nur noch durch Entwertung einstiger Männerterritorien eingelöst werden.

«Der Mann» wird jetzt, da Frauen in Haus&Öffentlichkeit das Wort ergreifen (dürfen), nicht mehr als Mann des Wortes und der Theorie, sondern als Mann der Praxis und der Tat inszeniert. «Als Mann aus dem Volk und ‹Kleinunternehmer› traut ihm die Basis mehr zu, als wenn er im akademischen Elfenbeinturm sozialisiert worden wäre», schreibt die Neue Zürcher Zeitung am 11. März 2008 über einen eben zum Stadtratskandidaten gekürten SVP-Politiker. Welcher rechte Bub möchte da noch studieren?

Das Wort, das früher Männersache war, wird, Zug um Zug, feminisiert. In dem Moment, in dem das Gespräch unter Gleichen droht, werden Männer über das Schweigen rekonstruiert. So schreibt Kolumnistin Wäis Kiani in ihrem Buch «Stirb, Susi» das verstaubte Sprichwort «Ein Mann – ein Wort, eine Frau – ein Wörterbuch» so fort: «Ein Mann redet nicht viel. Er weiss, dass Worte nichts sind als Schall und Rauch…» Und dann treibt sie die Geschlechterpsychologie auf einen neuen Höhepunkt: «Ein Mann, der älter ist als fünfundzwanzig und ständig von sich erzählt, ist fast schon eine Frau.» Ein Kompliment ist das ganz offensichtlich nicht. Da bleibt dem armen Mann&Buben nur das «Taten statt Worte», auch wenn der damit verbundene Zwang zu handeln den Zwang zur Gewalt enthält.

Schon in Goethes Faust&Wagner ist die Abwertung von Theorie&Bücherwissen, die Verschiebung von der Wissens- zur Erfahrungswelt, vom Wort zur Tat angelegt:

«Geschrieben steht: ‹Im Anfang war das Wort!›
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen…»,

sinniert Faust in seinem Studierzimmer, bis ihm der Geist zu Hilfe kommt, jetzt

«auf einmal seh ich Rat
Und schreib getrost ‹Im Anfang war die Tat›!»

Das Primat des Handelns ist zum Kern aktueller Männlichkeiten geworden, die sich am Gegenbild der intellektuellen Frau (beziehungsweise braven Schülerin) aufrichten und sich der ökonomischen Logik unterwerfen, die das Denken als das Nutzlose, das Handeln als das Verwertbare erscheinen lässt.

Befreiung auf das Weibliche hin ist die Voraussetzung für schulischen Erfolg
Die Grundformel «Mann sein heisst, nicht Frau sein» ist massgeblich für das schulische Elend der Buben verantwortlich. Am Ende des Versuchs, sich durch Entwerten feminisierter Bereiche und Zurückziehen in frauenfreie Zonen eigene männliche Orte zu retten, stehen Männer&Buben mit dem Rücken zur Wand. Sogar in der Todeszone über 8000 Metern gilt nach Albert Fredrick Mummery, der vor oder nach der Besteigung des Everest abgestürzt ist: «Jeder Berg scheint drei Stadien durchzumachen – ein unmöglicher Berg, der schwierigste Berg der Alpen, an easy day for a Lady.» (Reinhold Messner: On Top – Frauen ganz oben)

Wenn sich Männer&Buben (wieder) mehr Raum verschaffen sowie bessere Chancen auf schulischen Erfolg haben wollen, bleibt ihnen, ähnlich wie den Frauen, nur die Überschreitung der Geschlechtergrenzen, das heisst die Erweiterung des «Konzepts Mann» auf das traditionell Weibliche hin.

Für die Schule bedeutet das – die männlich&tapfer kaschierten Unsicherheiten sowie Nöte von Knaben erkennen, Buben ermutigen, Ängste zu zeigen, sich, trotz Angst, ins Unsichere zu wagen, Hilfe anzunehmen und zu reden. Das heisst, die Schule muss zu einer Schule werden, die Menschen macht und sie als vielfältige Individuen wahrnimmt statt sie der schwarzweissen Dualität von Mann oder Frau zu unterwerfen.

Das Problem unserer Schule – die im täglichen Kampf um Ruhe und Aufmerksamkeit viel Lebenszeit verschwendet, von Buben, Mädchen und Lehrpersonen – und die Aufgabe, wie Lernen ganz grundsätzlich möglich wird, sind damit nicht gelöst. Eine interessante, aber auch beklemmende Frage ist beispielsweise, weshalb Buben, die in der Schule als bequem&faul gelten, sich beim Fussballtraining, zum Beispiel, mit so viel Schweiss&Herzblut reinhängen, selbst wenn die wenigsten von ihnen mit Meistertiteln oder Cupsiegen belohnt werden. Dies, obwohl Erfolg als zentrale Motivationsspritze für Lernende gilt.

Eine Schule, in der wirklich gelernt und Lernen nicht nur inszeniert wird, wäre, für Buben und Mädchen, eine ganz andere Schule. Aber das ist eine andere Geschichte.


Dieser Text basiert auf dem Referat «Taten statt Worte oder Die Schule macht keine Männer» (Pädagogische Hochschule Graubünden, 10. April 2014) und dem Buch «‹Tatort›, Fussball und andere Gendereien» von Jürgmeier und Helen Hürlimann, erschienen im Interact- und Pestalozzianum-Verlag, Zürich und Luzern, 2008.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Jürgmeier war während vieler Jahre Lehrer und Leiter Allgemeinbildung an einer Berufsfachschule.

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2 Meinungen

  • am 17.02.2015 um 19:22 Uhr
    Permalink

    "Lernen ist ganz grundsätzlich eine Kränkung.» – Fängt ja gut an … 🙁

    Neugierde und Wissensdrang sind offenbar nicht nur Fremdwörter, sondern keine dem Manne ab Babyalter innewohnende Aspekte.
    Dieser Aussage nach bin ich weder Mann noch Frau sondern ein Alien, das angstfrei selbst als Erwachsener noch lernt, weil es etwas wissen und Neues entdecken will, statt dass es, dem Autor gemäss, defizitgetrieben eine Kränkung beseitigt.

    Weitere Wörtinnen spare ich mir jetzt, da ich mich unter dieser Prämisse etwas verwirrt wiederfinde und gar nicht weiss, wo ich zum Taterich schreiten sollte.

  • am 20.02.2015 um 17:41 Uhr
    Permalink

    Ich habe gehofft, in diesem zweiten Teil mehr zu erfahren. Fehlanzeige. Die Ursachen für die angebliche «Problematik der Buben im Schulsystem» sind im ver-psychologisieren des Schulsystems, respektive der fehlgeschlagenen Perfektionierung desselben zu finden. Dazu kommt die schon vorher erwähnte Femininisierung der Lehrerschaft. Zu viele Frauen, zu wenig Männer.

    In meinem Kommentar im ersten Teil habe ich geschrieben, dass wir nicht den Stil der 1950er Jahre brauchen. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Pauken und Bestrafen sind im Schulbetrieb leider Fremdwörter geworden. Obwohl eine angemessene Sanktion Wunder vollbringt.

    Ich bin der Meinung, dass die Lehrpersonen(!) sorgfältiger ausgesucht und auf ihre Berufstauglichkeit hin überprüft werden sollten, lange bevor sie auf die jungen Menschen losgelassen werden. Heute wird man offenbar in erster Linie Lehrer/in, weil das Teilzeitmodell so angenehm ist. Bei mehr als adäquatem Äquivalent…

    Dass viele Lehrer/innen sich als vermeintliche Psychologen aufspielen, schadet den Schülern und uns, der Gesellschaft. Wenn wir schon so viel dafür bezahlen, dann darf man auch erwarten, dass die Lehrer/innen sich alle paar Jahre einer unabhängigen, berufspsychologischen Überprüfung stellen und entsprechend Nachhilfeunterricht besuchen, sollten sie nicht mehr ganz fit sein.
    Damit könnte der Beruf des Lehrers wieder gesellschaftlichen Rang erhalten und die Motivation, zielorientiert Schulunterricht zu leisten, erhöht werden.

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