Tschernobyl: Mahnmal für die nächsten 100 Jahre
Der neue, zweite Sarkophag für die strahlende Atomruine von Tschernobyl wird etwa 2 Milliarden Schweizer Franken kosten. Danach sind für den Unterhalt jedes Jahr weitere 100 Millionen CHF notwendig. Das sind Schätzungen.
Die Ukraine kann das nicht bezahlen. Also bringt «die internationale Gemeinschaft», die USA, die Europäische Union, die Schweiz und bis Fukushima auch Japan die notwendigen Mittel auf. Gerade wieder 550 Mio. Euro, also rund 700 Millionen Schweizer Franken.
Keine Endlösung – eine Schonfrist
Was unter dem Sarkophag geschehen wird, wissen wir nicht. Wenn er denn, wie geplant bis 2015 oder etwas später, mit seinen 23’000 Tonnen Gewicht tatsächlich über die Atomruine geschoben wird. Darunter wird es weiter strahlen. Darunter wird sich Hitze entwickeln. Darunter werden Brennstäbe für rund hundert Jahre einigermassen abgeschottet von der Atmosphäre gelagert. Rund 200 Tonnen radioaktives Material dürften es sein.
Danach dürfen sich unsere Kinder und Kindeskinder damit beschäftigen. Sie dürfen die finanziellen Mittel aufbringen. Und sie haben bis dann vielleicht eine Lösung für ein sicheres Endlager gefunden. In Tschernobyl. In Fukushima, in…
Trau keinem, der Dir Sicherheit verspricht
«arte» hat mit dem Themenabend «Tschernobyl – for ever» die Lage damals und die Folgen bis heute und in die Zukunft knapp und klar dargestellt.
Niemand wusste damals, vor 25 Jahren, was zu tun war. Tschernobyl brannte 10 Tage. Die radioaktive Wolke breitete sich aus über fast ganz Europa und bis nach Nordafrika. Die Mütter wussten nicht, was ihre Kinder essen sollten und ob sie draussen spielen dürften. Die Erwachsenen wussten nicht, warum in manchen Regionen gehäuft Krebserkrankungen, Missbildungen, Probleme bei Schwangerschaften auftauchten.
Forschung wurde behindert, Ergebnisse wurden unterdrückt. Selbst von den Atombomenstädten Hiroshima und Nagasaki gibt es bis heute keine abschliessenden Erkenntnisse über die Folgen, sagt der ehemalige WHO-Direktor Hiroshi Nakajima. Forscher wie der Weissrusse Juri Bandaschewski, der die verheereden Folgen niedriger Dosen von Radioaktivität nachgewiesen hat, wurden mundtot gemacht oder gar ins Gefängnis gesteckt. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Verstrahlte Böden, verstrahlte Pflanzen. Die Ukraine ist wie Frankreich ein Land, das von Landwirtschaft abhängig ist (und von Atomenergie).
Und die Regierungen erklärten zuerst und immer wieder, es bestehe keine Gefahr. Bis unabhängige Wissenschafter und oppositionelle Abgeordnete selbständige Untersuchungen durchführten und die Ergebnisse zum politischen Thema machten.
Aber die Strategie der Verharmlosung ist bis heute die herrschende Strategie.
Vertrauen ist nicht angebracht. Im Gegenteil. Atomkraftwerke sind auf 30 Jahre Lebensdauer angelegt. Danach müssten sie abgeschaltet, abgebaut, entsorgt werden. Das heisst, wie der griechische Nuklearphysiker Athanasios Geranios sagt: «Jedes Atomkraftwerk ist auch Atommüll.» Das Prinzip muss heissen: «Trau keinem, der Dir Sicherheit verspricht!»
Bornierte Allwissenheit und interessengeleitetes Lobbying
Manche sind gefangen in dem, was sie für wissenschaftliches Denken halten. Manche sind von der Industrie bezahlte Wissenschafter. Manche sind schlicht Lobbyisten der Atomindustrie. Manche sind das eine und das andere und das andere.
Bei «arte» trat am 25. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl Bertrand Barré auf, Ingenieur und Teilchenphysiker, früher Nuklear-Attaché bei der französischen Botschaft in den USA, jetzt noch wissenschaftlicher Berater des weltgrössten Atomkonzerns, der französischen Areva, der in Tschernobyl an der Katastrophenbewältigung beteiligt ist wie nun in Fukushima.
Bertrand Barré sagt mit der unberührten Arroganz des Wissenschafters und Interessenvertreters: «Es wird wieder losgehen mit der Atomindustrie. Es wird eine Pause geben. Aber es wird wieder losgehen.» Denn Bertrand Barré «weiss», dass die neue, vierte Generation der Atomkraftwerke sicher ist.
Und er bleibt unberührt von der einfachen Erfahrung derer, die als Betroffene, Bürger, Politiker, Journalisten den blinden Glauben an die Wissenschaft oder die Blindheit der Lobbyisten nicht teilen. Denn für Barré wie für seine gleichgesinnten Kollegen gilt: Den «menschlichen Faktor» berechnen sie nicht.
Die Götter von Wissenschaft und Technologie
Zum «menschlichen Faktor» gehört die Fehlerhaftigkeit des menschlichen Handelns – ein Charakterzug des menschlichen Tuns. Und der vorläufige, provisorische Charakter aller wissenschaftlichen Erkenntnis. Dies ist, grundsätzlich und unbestreitbar, ein wesentlicher Teil des gültigen Wissenschaftsverständnisses. Und dafür müssten auch diese «Wissenschafter» eigentlich offen sein.
Aber sie haben das Selbstverständnis kleiner Götter: sie wissen alles, denn sie haben es berechnet. Sie sind allgegenwärtig, präsent und vorbereitet auf alle Krisenfälle. Und sie sind allmächtig, denn schliesslich findet sich für jeden GAU auch noch ein Sarkophag, unter dem wir die strahlenden Überreste begraben können. Für unserer Kinder und Kindeskinder. Wie in Tschernobyl, Fukushima,…
Sie haben nur den «Faust» nicht gelesen oder den Mephistopheles verdrängt, der an die Vertreibung aus dem Paradies erinnert: «Eritis sicut deus… Ihr werdet sein wie Gott, wissen was gut ist und was übel.» Und dann (beiseite):«Folg nur dem alten Spruch und meiner Muhme, der Schlange. Dir wird gewiss bei Deiner Gottähnlichkeit bange!»
Nachtrag:
Marco Meier, ehemaliger Chefredaktor des «Du», Leiter «Sternstunden» (Schweizer Fernsehen) und von DRS 2 (Schweizer Radio), hat vor 25 Jahren einen Kommentar geschrieben im Zeitgeist-Magazin «Magma» (Tamedia) mit dem Titel: «Nach Tschernobyl». Dieser Kommentar hat bis heute Gültigkeit. Man müsste nur die Namen der damaligen Akteure mit den Namen der heutigen ersetzen. Michael Kohn mit Bernard Barré, Rudolf Rometsch mit Gerold Bührer, Leon Schlumpf und Alphons Egli mit Ueli Maurer und Doris Leuthard, auch wenn Bundesrätin und Bundesrat heute etwas geschickter taktieren. «infosperber» publiziert den Kommentar von Marco Meier aus aktuellem Anlass heute noch einmal (s. Weiterführende Informationen).
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine