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Tote sind Tote. Oder doch nicht? © cm

Tote hier und Tote da. Doch Tote sind nicht Tote.

Christian Müller /  Der erste Aufschrei nach dem Massaker bei Charlie Hebdo ist vorbei. Die Diskussion wird sachlicher. Aber auch weniger parteiisch?

Das Entsetzen über die brutale Ermordung der Karikaturisten der französischen Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo war weltweit gross. Zu Recht. Es gibt nichts, aber auch gar nichts, das dieses Massaker rechtfertigen oder gar entschuldigen könnte.

Zwischenzeitlich sind etliche Tage vergangen. Die ersten Zweifel tauchen auf, ob auch der Slogan «Je suis Charlie» so ganz ins Ziel traf. Denn manch ein Karikaturist wagte die Aussage: Religiöse Gefühle zu verletzen soll Rechtens sein. Ob man es aber auch tun soll, ist fraglich. Sie selber, so sagten etliche, und nicht die schlechtesten, würden das aus Überzeugung nicht tun.

Tatsächlich gibt es Tabus, an die sich auch die schärfsten Satiriker halten. Wer etwa würde es wagen, die Ermordung von Millionen von Juden im Dritten Reich in einer Karikatur als Lachnummer zu zeigen? Charlie Hebdo war mit seiner konsequent religionsfeindlichen Satire denn auch in Frankreich kein wirklicher Publikumsrenner. Mit einer gedruckten Auflage von 60’000 Exemplaren und einer verkauften Auflage von 30’000 bei 66 Millionen Einwohnern erreichte das Satireblatt also gerade einmal jeden zweitausendsten Franzosen: ein halbes Promille.

Respektlosigkeit – oder nur schlechter Geschmack?

Meinungsfreiheit muss sein. Pressefreiheit muss sein. Aber gerade deshalb darf auch diskutiert werden darüber, was sein darf und was sein soll. «Mohammed muss wegen der Karikaturen von Charlie Hebdo nicht gerächt werden», schrieb eine muslimische Bloggerin. «Er ist nicht verletzt, denn er ist schon lange tot.» Aber man dürfe es gläubigen Muslimen nicht übel nehmen, wenn sie sich durch Allah-Karikaturen à la Charlie Hebdo in ihrem Glauben verletzt fühlten.

Die Diskussion zu diesem Thema darf, ja soll geführt werden!

Ein weiteres Phänomen bedarf der Beachtung

Den politisch und historisch interessierten Journalisten – und noch mehr den journalistisch aktiven Historiker – beschäftigt allerdings noch ein anderes Phänomen. Warum hat ausgerechnet dieses Massaker diese transnationale, fast gesamteuropäische Gruppendynamik ausgelöst?

Am 23. April 1999, also vor knapp 16 Jahren – und das ist doch deutlich weniger als eine Generation – haben NATO-Truppen das Hauptquartier des serbischen Fernsehens mit einer Rakete beschossen und zerstört. Etliche Journalisten und weitere Personen wurden dabei getötet. US-amerikanische und NATO-Officials verteidigten die Attacke als Unternehmen, «das Regime von Präsident Slobodan Milosevic zu unterminieren». «Das serbische TV ist genauso ein Teil von Milosevics Mörder-Maschine wie sein Militär es ist», sagte damals Pentagon-Sprecher Kenneth Bacon. «Die Medien sind eine der Säulen von Milosevics Machtapparat.» Die serbische Seite allerdings sah das anders: «Die NATO wollte ganz einfach den Marktplatz freier Ideen zerstören und sicherstellen, dass nur eine Seite der Propaganda verbreitet werden konnte.»

Gab es auch nach dieser Attacke gegen die Meinungsfreiheit irgendwo in Europa eine Empörung? Ja, ein ganz klein wenig, in Italien. Der italienische Aussenminister Lamberto Dini wagte vor laufender Kamera am italienischen Fernsehen den Satz: «Es ist entsetzlich. Ich missbillige dieses Vorgehen.» Das war’s dann aber auch schon. (Nachzulesen zum Beispiel in der New York Times vom 24.4.1999.)

Und die Toten von gestern und heute?

Man muss aber nicht einmal 16 Jahre zurückgehen. In den gleichen Tagen, in denen in Paris Einmütigkeit demonstriert wurde, kam es in Nigeria zu Massenmorden. Allein in der Stadt Baga wurden um die 150 Menschen massakriert. Einige Zeitungen haben darüber tatsächlich auch berichtet. Aber Empörung?

Vor allem aber ist es ein europäischer Schauplatz, der zu denken gibt. In der Ostukraine sterben jeden Tag Dutzende von Menschen in den Bomben und MP-Salven der eigenen Armee, nicht zuletzt Frauen und Kinder. Gerade auch wieder in den letzten Tagen. Kiew rüstet mit westlicher Unterstützung zum Krieg und mobilisiert Tausende von Soldaten, um noch mehr Landsleute umzubringen. Und um es möglichst unwidersprochen tun zu können, tut Kiew alles, um Informationen von russischer oder russlandfreundlicher Seite zu unterbinden. Eine echte Meinungs- und Pressefreiheit, die es in der Ukraine vor dem Maydan noch gegeben hatte, gibt es in diesem Land längst nicht mehr. Dafür hat Präsident Petro Poroschenko, der Oligarch, eine eigene Fernsehstation…

Jetzt verlangt Kiew, dass die Separatisten in der Ostukraine formell als Terroristen deklariert werden – die von den USA vorgeführte Methode, sich auch an die völkerrechtlichen Kriegsregeln nicht mehr halten zu müssen. Es soll endlich im grossen Stil gemordet werden dürfen!

Tausende von Toten, Europa schaut zu, von Empörung keine Rede. Im Gegenteil, man schickt demnächst wieder Milliarden an Unterstützung.

Ein paar Tote hier, Tausende von Toten da. Aber eben: Tote sind nicht Tote. Es kommt immer darauf an, wer geschossen hat.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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26 Meinungen

  • am 17.01.2015 um 19:09 Uhr
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    Ja, es kommt tatsächlich immer darauf an, auf welcher Seite man steht. Denken, drücken, schlucken, sprechen ist immer angesagt. Christian Müller liegt richtig, zuerst gründlich überlegen und dann sprechen oder gar schweigen! Da hat Bundesrätin Leuthard zu mindest zum Überlegen angeregt……

  • am 18.01.2015 um 11:10 Uhr
    Permalink

    Das traurigste an dieser traurigen geschichte ist das beinahe totschweigen der massentoetungen in Nigeria. Kann mir das jemand erklaeren?

  • am 18.01.2015 um 17:02 Uhr
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    In Nigeria hat es Erdöl im Wert von 2,7 Billionen Euro.

  • am 18.01.2015 um 17:12 Uhr
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    @Bregy, ich weiss, und danke fuer die bestaetigung, dass einmal mehr geld wichtiger ist als toetungen in entfernten, aber reichen skrupellosen laendern wichtiger ist. Sehr bedenklich!

  • am 18.01.2015 um 17:27 Uhr
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    Von Mohamed Atta, über die Zarnajew-Brüder bis jetzt zu diesen Terrorbrüdern: Sie waren im Fokus der Geheimdienste.
    Entweder wird man zum Terrorist, wenn man unter Beobachtung ist, oder die Geheimdienste sind ein Care-Team, das potentielle Terroristen begleiten, bis sie zur Tat schreiten.

  • am 19.01.2015 um 10:48 Uhr
    Permalink

    "Wer etwa würde es wagen, die Ermordung von Millionen von Juden im Dritten Reich in einer Karikatur als Lachnummer zu zeigen?"
    Das hat einer getan, indem er sich als Stele verkleidet hat und sich in Berlin neben das Holocaust-Mahnmal stellte. Im TV (deutscher Staatssender) hat man dann über eine Oma lachen dürfen, die das nicht lustig fand.
    Namen und Adressen:
    In der Stele war Henryk M. Broder, hingefahren hat ihn Hamed Abdel-Samad.
    Das Komiker-Duo besucht auch mal KZs und polemisiert gegen das Essen in der Kantine.
    Der (Ex)-Muslim Hamed Abdel-Samad fand die Stelen-Aktion immerhin daneben. Der Jude Henryk M. Broder nicht.
    Parallelen zu Schweizer Kollegen: Auch diese beiden schreiben daneben nichtsatirische (?) Texte zum Islam (keine Leseempfehlung!)

    Werner T. Meyer

  • am 19.01.2015 um 13:15 Uhr
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    Ja, der Broder. Nur israelische Staatsbürger dürfen das. Wohl die einzige Nation, über die sich nur die eigenen Bürger lustig machen dürfen. Alle andere sind dann Antisemiten. Man stelle sich vor, folgendes hätte ein Nicht-Jude geschrieben:

    http://www.heise.de/tp/artikel/43/43884/1.html

  • am 19.01.2015 um 14:31 Uhr
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    …und jetzt auch noch das: Vor vier Tagen hat das EU-Parlament beschlossen, gegen den Informationskrieg von Russland vorzugehen:

    "MEPs call on the EU to pay particular attention to the «information war» pursued by Russia and ask the Commission to propose, within two months, a communication strategy to counter the Russian propaganda campaign directed at the EU, its eastern neighbours and Russia itself."

    http://www.europarl.europa.eu/news/de/news-room/content/20150109IPR06321/html/Ukraine-MEPs-condemn-terrorist-acts-and-say-sanctions-against-Russia-must-stay

  • am 19.01.2015 um 15:59 Uhr
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    Wenn hier in Paris ‹lediglich› drei (Terroristen) umbegracht worden wären, würden wir in Frankreich in einem totalitären Staat leben, der dafür sorgen würde, dass seine Bürger rund um die Uhr geschützt sind. Ehrlich, Frankreich tut sich stark für etliche Protestaktionen gegen Misstände weltweit, natürlich aber auch für Streiks, für die zu verdauen ich als Schweizer meine Mühe habe. Die 50 Staatsmänner und -Frauen, die man in veröffentlichten Photos von gewissen arabischen Staaten wegretouchierte, waren nur aus Sicherheitsgründen von den übrigen Demonstranten isoliert, was auf der Strasse überhaupt nicht zur Geltung kam. Was einfach entscheidend war, war die Masse der Bürger die im total eigenen Interesse, was man eben niemandem übel nehmen kann, auf die Strasse gingen und die Pressefreiheit im eigenen Staate propagierten, sonst nichts. Persönlich hätte ich mich bestimmt wesentlich weniger provokatorisch verhalten, aber was solls, es gibt vieles, was das Gesetz entgegen meiner persönlichen Moral und Überzeugung toleriert. Töten als Racheakt in Vertretung eines Betroffenen, wie in diesem Falle Mohammed., ist kriminell und totaler Unsinn. Jeder Staatsbürger jeglicher Farbe, politischer Richtung oder Religion, hat dies zu manifestieren und verbal oder zeichnerisch zu verteidigen, was auch immer sonst auf der Welt passiert. Ich bin zum Besispiel darüber entsetzt, dass nur 1% der Weltbevölkerung die Erdkugel effektiv besitzt. 99% von uns leben im fatalen Ungewissen. Ein Skandal!

  • am 19.01.2015 um 16:30 Uhr
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    …da haben Sie schon recht. Die müssen sich immer mehr aus Sicherheitsgründen von den Massen isolieren.

  • am 19.01.2015 um 16:44 Uhr
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    Die Verwandten der Opfer des Odessa-Anschlags wissen auf jeden Fall, auf welcher Seite diese Staatsmänner stehen, angesichts des Aufbauschens des einen Ereignisses und des Ignorierens des anderen.

    Derweil tingelt Poroschenko durch Europa und wer gegen seine Auftritte ist, ist ein Linksextremer:

    http://www.20min.ch/schweiz/news/story/24340706

  • am 19.01.2015 um 16:47 Uhr
    Permalink

    Und «Was einfach entscheidend war, war die Masse der Bürger «

    Was heisst die Masse? Gegen die Karikaturen gingen weltweit wahrscheinlich mehr Menschen auf die Strasse. 800’000 allein in Tschetschenien:

    http://www.20min.ch/ausland/news/story/800-000-demonstrieren-gegen–Charlie-Hebdo–15960882

    Aber die Masse hat angesichts der Kriegserklärung der US-hörigen EU eh bald andere Sorgen:

    http://www.europarl.europa.eu/news/de/news-room/content/20150109IPR06321/html/Ukraine-MEPs-condemn-terrorist-acts-and-say-sanctions-against-Russia-must-stay

  • am 19.01.2015 um 16:53 Uhr
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    …und wenn Regierungen zu Demonstrationen aufrufen, ist was faul. Angesichts der Interventionen in den Gebieten, aus deren Gefängnisse sich heute Attentäter rekrutieren, sogar heuchlerisch..

  • am 19.01.2015 um 17:43 Uhr
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    Der Chefredakteur des französischen Satire-Magazins «Charlie Hebdo», Gérard Biard, hat westliche Medien kritisiert, die das Titelblatt der jüngsten Ausgabe mit einer Mohammed-Karikatur nicht veröffentlicht haben. (www.newsroom.de/news- 19.01.2015
    Wieviel druck darf es denn sein???

  • am 19.01.2015 um 17:48 Uhr
    Permalink

    …der versteht kein Spass. Mitten in die Presse quasi.
    Ist es in solchen Zeiten nicht eine Karikatur, Mohamed-Karikaturen nicht abzudrucken?

  • am 19.01.2015 um 17:49 Uhr
    Permalink

    …jetzt hab ich dem noch ein M geklaut…sorry

  • am 19.01.2015 um 17:53 Uhr
    Permalink

    Was haben die jetzt verkauft…? Auflage 1 Million, 2 Millionen? Die können jeden toten Karikaturisten jetzt durch 50 neue Mohammed-Zeichner ersetzen.

  • billo
    am 19.01.2015 um 18:10 Uhr
    Permalink

    Man darf einmal naiv sein und sich im absoluten Recht wähnen. Man darf sogar einmal stur sein. Aber ein Menschrecht auf sture Rechthaberei gibt es nicht. Selbst wenn man einen weinenden Mohammed aufs Titelblatt knallt, ist es eben der Prophet, von dem man sich in den Augen seiner Gläubigen kein Bild machen soll, schon gar keines aus dem Stift eines Nichtgläubigen. Man könnte auch einfach mal einen Schritt zurücktreten, Ruhe zulassen und nachdenken. Aber nein, von einer unglaublichen Rechthaberei angestachelt muss ein bisher ziemlich bedeutungsloses Blättchen nun dreimillionenfach nichmals in die gleiche Kerbe hauen. Ich hab dafür kein anderes Wort als: bescheuert.

  • am 19.01.2015 um 18:22 Uhr
    Permalink

    Genau. Mit Zeichnungen, die andere beleidigen, für die freie Meinugnsäusserung zu kämpfen, ist in etwa dasselbe, wie Fremdgehen mit der freien Partnerwahl zu begründen.

    Europa soll wohl meinungstechnisch geeint werden.

  • am 19.01.2015 um 23:31 Uhr
    Permalink

    Ich bin erstaunt über den Ernst, den meine Miteidgenossen in der Karikaturen-Affaire an den Tag legen. Es ist doch ganz klar, dass die Welle, die das Attentat auf die Redaktion von Hebdo Charlie und die Tötung der Zeichner aulöste, alles Vorstellbare überflutete und die Dimensionen des «bedeutungslosen Blättchen» mehrfach überstieg. Der Grund dieses 11. Januar 2015 ist ein ganz anderer: man hat einfach genug von all diesem Lärm um nichts um beleidigte Leberwürste, von Lügen über Lügen, von religiösen Bombenanschlägen, von Klimaänderungen wegen Umweltschändung, von fiktiven Börsenspielen und Bankskandalen, von Genoziden und Martyrerverehrungen, von Totendenkmälern und Gedenktafeln an Helden, die von ihren machthungrigen Generälen in den sinnlosesten Tod geschickt worden waren, von Immunverlust und Überfütterung der Reichen in Anbetracht der Armen, die immer ärmer werden. Der Auslöser ist aber der, dass man liebend gerne wieder einmal lachen und sich bedingungslos zusammenrauffen möchte. Einen anderen Grund giebt es nicht, ausser dass wir heute dank den heutigen Kommunikationsmitteln einen Aufstand wie noch nie in Szene zu setzen imstande sind. 1968 hatten wir noch Matrizen für 30 Flugzettel und blaue Finger vom Sprit über der Druckwalze. Die Welle wäre damals gigantisch gewesen. Leider muss ich sagen, dass ich mich vor einem nächsten Aufstand fürchte, denn er könnte von Extremisten jeglicher Art ausgelöst werden, da sie es bestens verstehen werden mit den Medien zu spielen.

  • am 23.01.2015 um 10:42 Uhr
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    Vor kurzem verübten tschetschnische Terroristen auf das Pressehaus in Grosny ein Attentat mit vielen Toten.
    Europa mit seinen «heeren Werten» nahm dies nicht zur Kenntnis…
    Die Toten im Bus bei Wolnowacha – welch eine «Friedensdemo» mit Schokoschenko an der Spitze zu ihrem «Gedenken»…
    Gestern die Toten im Bus in Donezk – lt. Kiewer Aussage, wurden sie von den «Terroristen» ermordet…
    Zu den tschetschenischen Terroristen nur eine Anmerkung: in der BRD nennt man sie FREIHEITSKÄMPFER (gegen Putin natürlich) und sie bekommen hier politisches Asyl!
    Zur Ukraine: Frau Merkel will nicht zur Kenntnis nehmen, dass ihre politische Busenfreundin Timoschenko die Menschen im Donbass Biomasse nannte, die man mit einer A-Bombe ausradieren sollte!…Ein anderer Kiewer Politiker (welcher es war ist mir entfallen), nannte sie gar Untermenschen!
    Und diesen Politikern gibt die EU Kredite!!!

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