«Für Panik besteht überhaupt kein Grund»
Herr Arbenz, halten Sie nirgends eine 1.August-Ansprache?
Peter Arbenz: Mit etwa fünfzehn 1.-August-Ansprachen in den vergangenen 30 Jahren habe ich mein Pensum erfüllt und überlasse dies heute gerne der jüngeren Generation.
Was würden Sie denn zum Nationalfeiertag sagen?
Zu mehr Gelassenheit und Besonnenheit sowie einem offeneren Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen aufrufen. Zudem würde ich an gemeinsam Erreichtes erinnern und an unsere Fähigkeit, im demokratischen Dialog vielfältige Probleme zu bewältigen. Diese verpflichtet uns, nicht zuletzt angesichts unseres Wohlstands, zu internationaler Solidarität und Mitgestaltung.
Hat die Schweiz denn Grund zum Feiern?
Ein Nationalfeiertag ist sowohl Anlass, Traditionen zu pflegen, wie auch zu kritischer Standortbestimmung. Denn auch bei uns ist einiges in Schieflage geraten. Es gelingt immer weniger, unsere Probleme im Alleingang zu lösen.
Die EU steckt tief in der Krise. Das fördert die patriotische Nabelschau.
Nicht nur die EU steckt in einer Krise, sondern und vor allem auch der internationale Finanzmarkt. Nationalstaatliches Zusammengehörigkeitsgefühl in Ehren, aber isolationistischer Patriotismus führt nicht mehr zum Ziel. Dennoch ist es natürlich legitim, dass jeder Staat seine eigenen Interessen vertritt.
Die Anhänger des Alleingangs fühlen sich mehr denn je bestätigt. Droht die Isolation?
Das ist eine emotionale Scheinsicherheit. Wir pflegen ja nicht den Alleingang, sondern sind mit der EU in einem komplexen Netz von bilateralen Beziehungen und Verträgen verbunden. Den bilateralen Weg aufzukündigen, scheint mir brandgefährlich. Isolation droht uns von aussen, wenn wir mehr und mehr internationale Partner und Freunde verlieren.
Was halten Sie von erneuten Verhandlungen mit der EU?
Mit der EU stehen wir dauernd im Kontakt, ebenso wie mit unseren Nachbarstaaten. Ein EU-Beitritt steht zurzeit weder im Bundesrat noch im Parlament und im Volk zur Diskussion – wenn dieser auf lange Sicht auch eine Option bleibt. Zurzeit müssen wir der Personenfreizügigkeit Sorge tragen. Aber andere grosse Themen wie ein Energieabkommen oder eine Wiederauflage eines EWR-Beitritts stehen zur Debatte. Die Idee eines Schlichtungsverfahrens bei Rechtsstreitigkeiten halte ich für verfolgenswert.
Wie lange kann sich der Sonderfall Schweiz noch halten?
Wir können uns nicht immer auf unseren Sonderfall berufen, haben aber Anrecht, dass man unsere nationalen Eigeninteressen respektiert. Wir wollen ein ehrlicher Makler bleiben, aber nicht auf Sonderprivilegien pochen.
Hat das Renommee der Schweiz auf dem internationalen Parkett gelitten?
Leider ist das der Fall. Dazu beigetragen haben vor allem der Bankensektor, aber auch jüngste fremdenfeindliche Initiativen und Kampagnen, die man auch im Ausland wahrnimmt. In den Schwellen- und Entwicklungsländern geniessen die Schweiz, ihre Dienstleistungen und Qualitätsprodukte nach wie vor einen guten Ruf.
Was schadet dem Ruf mehr: der sanfte Umgang mit Steuerflüchtlingen oder der harte Umgang mit Wirtschaftsflüchtlingen?
Mit Steuerflüchtlingen gehen wir ja nicht mehr sanft um, höchstens noch mit Steuerhinterziehern. Und da stehen wir natürlich auch in offener Konkurrenz mit Offshore-Plätzen anderer Staaten. Im Umgang mit den Armutsflüchtlingen sitzen wir mit den übrigen europäischen Staaten im gleichen Boot. Solange wir mit echten Flüchtlingen menschlich und korrekt umgehen, kann dies unserem Ruf nicht schaden.
Doch die Angst vor Überfremdung wächst. Wie kontern Sie?
Die Schweiz ist ohnehin ein ethnisches Konglomerat mit grosser kultureller Vielfalt. Auch als kleines Land sind wir ein globaler Player. Wenn wir bereit wären, unseren Gürtel enger zu schnallen, auf einiges zu verzichten und das Wachstum einzufrieren, könnte der Beizug ausländischer Arbeitskräfte verringert werden. Dennoch: Gewisse Ängste vor einer Überfremdung sind von den Behörden und Politikern ernst zu nehmen.
Das Ja zur Minarett-Initiative und zur Ausschaffungsinitiative waren klare Signale: Das Volk wähnt die Schweiz in Gefahr.
Die Initiativen erhielten eher ein Zufallsmehr und ihre Umsetzung ist immer noch sehr umstritten. Viele Schweizerinnen und Schweizer sind bei ihrem Abstimmungsverhalten meistens von schlechten Erfahrungen mit Einzelfällen ausgegangen.
Nun startet die SVP auch noch eine «Durchsetzungsinitiative».
Ich gebe dieser Initiative wenig Chancen. Möglicherweise wird der Kompromissvorschlag des Bundesrates doch angenommen oder die Durchsetzungsinitiative zurückgezogen.
Aber kriminelle Ausländer füllen zunehmend die Gefängnisse.
Das ist leider ein Faktum. Die Antwort darauf ist das Bereitstellen von mehr Gefängnisplätzen, das rasche Erledigen von Strafverfahren und Wegweisungen oder Ausschaffungen nach Verbüssung der Strafe mit einem Wiedereinreiseverbot.
Eine eigentliche Flüchtlingswelle wie einst aus Jugoslawien blieb bisher aus. Doch die Nervosität ist gross.
Zu Beginn und Ende der 90-er Jahre nahm die Schweiz beinahe doppelt so viele Asylgesuche entgegen wie heutzutage – und alle Antragsteller konnten vorübergehend untergebracht werden. Viele sind zurückgewandert. Weil die damalige Aufnahmekapazität heruntergefahren wurde, sind Bund, Kantone und Gemeinden nun erneut gefordert, diese Kapazität auf das gegenwärtige Niveau anzuheben. Aber das braucht Zeit. Da besteht natürlich eine gewisse Nervosität und Unsicherheit. Aber: Für Panik besteht überhaupt kein Grund.
Die Armee könnte aushelfen
Die Armee kann zweifellos aushelfen. Das VBS hat ja nach anfänglichen Widerständen, weil es selbst einem hohen Spardruck ausgesetzt ist, entsprechende Angebote unterbreitet. Aus verständlichen Gründen ist die Armee aber nicht bereit, Kasernen zu räumen, solange diese noch für Rekrutenschulen benötigt werden. Leider verfügt die Armee nicht mehr über Betreuungsformationen, die früher öfters und auch zur Zufriedenheit der Soldaten beigezogen werden konnten.
Vorgeschlagen werden auch Internierungslager.
Diese Idee ist abwegig und menschenverachtend. Sie erinnert an die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Hingegen könnte ich mir durchaus vorstellen, dass renitente und auffällige Asylsuchende bis zum Abschluss ihres Verfahrens in besonderen Zentren untergebracht würden.
Was halten Sie vom Entscheid des Nationalrates, den Asylbewerbern die Sozialhilfe zu streichen und nur noch eine Nothilfe zu bezahlen?
Bislang erhielten lediglich abgewiesene Asylsuchende Nothilfe. Wenn der Nationalrat diese nun auf alle Asylsuchenden im Verfahren ausdehnen will, so halte ich dies mindestens für unfair. Diese Meinung wird im übrigen auch von der Konferenz der Kantonalen Sozialdirektoren und der Städtepartnerschaft geteilt. Nun hat der Ständerat noch die Möglichkeit, diesen Entscheid zu korrigieren.
Zudem sollen die Schweizer Botschaften im Ausland keine Asylgesuche mehr annehmen – ein Verstoss gegen die Flüchtlingskonvention?
In dieser Frage war ich etwas hin und her gerissen. Die internationale Flüchtlingskonvention vertritt ja vor allem das sogenannte Non-refoulement Verbot: Solange Flüchtlinge auf Schweizer Botschaften in Herkunftsländern echte Verfolgungsgründe glaubwürdig nachweisen können, sind die Schweizer Vertretungen nach Rücksprache mit dem Bundesamt für Migration ermächtigt, solchen Personen ein Einreisevisum in die Schweiz zu erteilen.
Was bringen die erneuten Verschärfungen des Asylgesetzes?
Geschraubt wurde bisher vor allem an den Aufenthaltsbedingungen. Das wichtigste wäre aber eine Beschleunigung der Verfahren, worüber erst noch zu legiferieren sein wird. Dann braucht das Bundesamt für Migration ein grösseres Budget, um zusätzliche Mitarbeitende anstellen und die Empfangs- und Verfahrenszentren erweitern zu können.
Wie liesse sich denn die aufgewühlte Stimmung in der Bevölkerung beruhigen?
Wichtig scheint mir eine offene und ehrliche Kommunikation, weder eine Beschönigung noch eine Dramatisierung. Wenn die Bevölkerung sieht, dass die getroffenen Massnahmen greifen und das Verständnis für die schwierigen Verhältnisse in den Herkunftsländern wächst, wird sich die Lage wieder beruhigen.
Wird Justizministerin Simonetta Sommaruga allein gelassen?
Bundesrätin Sommaruga hat sich seit ihrem Amtsantritt initiativ mit der Flüchtlings- und Asylpolitik auseinandergesetzt. Sie erhielt dabei Unterstützung, stiess aber da und dort auf Ablehnung. Das ist eben der politische Alltag. Ich bin überzeugt, dass es ihr mittelfristig gelingen wird, die notwendigen Reorganisationen umzusetzen.
Mit Tunesien hat Sommaruga soeben eine Migrationspartnerschaft ausgehandelt. Funktioniert das?
Das wird die Zukunft zeigen. Das Angebot einer solchen Migrationspartnerschaft hat vor allem das Aushandeln eines Rückübernahmeabkommens mit Tunesien erleichtert. In Verhandlungen muss man immer Nehmen und Geben können.
Eine neue Studie belegt, dass Entwicklungshilfe die Migration eher fördert als bremst. Einverstanden?
Mit dieser abstrakten These bin ich nicht einverstanden. Entwicklungszusammenarbeit verfolgt das Ziel der Armutsbekämpfung und Existenzsicherung in den Herkunftsländern. Sie trägt damit langfristig zu deren Stabilisierung bei. Um in diesen Ländern auch die Binnenmigration zu bremsen, sind entwicklungspolitische Interventionen im ländlichen Raum besonders wichtig. Aber selbstverständlich bleiben Entwicklungszusammenarbeit und Migrationsprävention komplexe Themen.
Der Nationalrat hat kürzlich die Entwicklungshilfe erhöht. Tut die Schweiz genug?
Die Erhöhung der Beiträge für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe sowie zur Verstärkung von handelspolitischen Massnahmen auf 0,5 Prozent des Bruttonationaleinkommens war ein substanzieller Schritt. Die Schweiz liegt nun im Mittelfeld der europäischen Geberstaaten. Das langfristige Ziel ist eine Erhöhung auf 0,7 Prozent. Aber auch wir müssen zum Bundeshaushalt Sorge tragen und die Schuldenbremse berücksichtigen.
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Peter Arbenz (75) war unter anderem FDP-Stadtrat (Exekutive) in Winterthur und ab 1990 Direktor des Bundesamtes für Flüchtlinge. 1993 machte er sich selbständig. 1996 wirkte er als Berater des OSZE-Präsidenten Flavio Cotti für die Wahlen in Bosnien. Später wurde er mit der Sanierung der Pensionskasse des Bundes betraut. Mitte 2001 bis 2012 war er ehrenamtlicher Präsident von Helvetas Swiss Intercooperation. Im Militär war Arbenz Brigadier und von 1994-1997 Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine. Gekürzte Fassung eines Interviews, das am 29. Juli in der "Südostschweiz am Sonntag" erschienen ist.