Kommentar

Mehr Medienkompetenz im Online-Journalismus?

Christian Müller © zvg

Christian Müller /  Kompetente Medienleute äussern sich über die Kompetenz ihrer Journalisten. Doch was ist eigentlich Medienkompetenz?

Zwei Interviews mit bekannten Medien-Managern haben in den letzten Tagen und Wochen in der Schweiz hohe Beachtung gefunden: eines mit Rolf Bollmann, Krisenmanager bei der Basler Zeitung BaZ in Basel, und eines mit Hansi Voigt, unfreiwillig verabschiedeter Chefredaktor der erfolgreichsten Online-Nachrichten-Plattform der Schweiz «20min». Das eine, mit Bollmann, hat Aufsehen erregt, weil der hartgesottene und offensichtlich auch in seiner Kommunikation nicht eben zartbesaitete Verlagsmanager über die Journalisten redete, als wären da nur unfähige, ungebildete und verantwortungslose Trottel am Werk. Das andere, mit Voigt, war interessant, weil der Ausgeschiedene das Medienunternehmen, bei dem er in Diensten stand, die Tamedia, mit der Erwähnung konkreter Beispiele der Profitgier und Innovationsunfähigkeit bezichtigte. Beide Interviews können online und vollständig nachgelesen werden.

Hier sei weder die Schelte über die Journalisten noch die Schelte über die Verlagsmanager das Thema. Jauche über ganze Berufsgruppen oder gar Branchen zu giessen, bringt selten etwas. Es ist ein Detail im Hansi-Voigt-Interview, das es zu beachten lohnt.

Hansi Voigt sagte wörtlich: «Ein durchschnittlicher «20 Minuten»-Online-Journalist verfügt über mehr Medienkompetenz als 90 Prozent der Journalisten in meiner früheren Print-Zeit.»

Noch einmal: «Ein durchschnittlicher «20 Minuten»-Online-Journalist verfügt über mehr Medienkompetenz als 90 Prozent der Journalisten in meiner früheren Print-Zeit.»

Als ehemaliger Printjournalist ist man zuerst einmal geschockt. Diese Arroganz! Unglaublich! Waren wir alles Blödiane? Dümmer als auch nur das Mittelmass der heutigen Online-Journalisten?

Man liest den Satz also noch einmal. Und noch einmal. Und plötzlich merkt man, dass der Mann wahrscheinlich recht hat. Die heutigen Online-Journalisten haben eine sehr hohe Medienkompetenz. Von der Materie, die da online kommuniziert wird, haben sie vielleicht keine grosse Ahnung, müssen sie auch nichts verstehen. Sachkompetenz und Fachkenntnisse zu Wirtschaft, Politik, Staatsrecht, Völkerrecht, Justiz, Energie-Gewinnung, Klimatologie, und und und, das haben sie nicht, das müssen sie offensichtlich auch nicht mehr haben. Die Online-Journalisten sind ja nicht die Rechercheure, die vor Ort Ursache und Wirkung einer neuen gesetzlichen Regelung zu ermitteln versuchen, nicht die Reporter, die in Krisengebiete gehen, um über das Elend von Krieg und Hunger zu berichten, nicht die Beobachter einer parlamentarischen Debatte in und ausserhalb des Parlamentssaales. Die Online-Journalisten sind zu Verteilern und Verwaltern von News geworden, zu «Dispatchern», wie das in etlichen Branchen genannt wird: zu Versanddisponenten, wie das Wörterbuch den «Dispatcher» auf deutsch übersetzt. Am Newsdesk im Newsroom entscheiden sie, welche Nachricht über welchen Kanal am attraktivsten zu verteilen ist, wie viele Zeilen dafür maximal eingesetzt werden können, oder, in Hansi Voigts Worten, wie die «Aufmerksamkeit» der Rezipienten, der Leserinnen und Leser, der User und Zuschauer, am besten «vermarktet» werden kann.

Da ist man, als ehemaliger Printjournalist, plötzlich nicht mehr beleidigt, so eine Aussage zu lesen. Denn die Frage, wie man die «Aufmerksamkeit» der Rezipienten am besten «vermarktet», zu deren Beantwortung offensichtlich «Medienkompetenz» gehört, die war vor zehn und vor zwanzig Jahren tatsächlich noch nicht so relevant.

Gefragt war Sach- und Fachkompetenz. Man musste in einigen Themen «sattelfest» sein. Man hatte meist nicht Publizistik studiert. Dass die Buchstaben in der Boulevardpresse grösser sind als in der NZZ, wusste man ja schon. Und an eine Journalistenschule war man meist auch nicht gegangen; die ersten öffneten gerade erst ihre Pforten. Aber man hatte zum Beispiel Neuere Geschichte studiert, Staatsrecht, Deutsch (ja, auch die Sprache, in der man schrieb, war damals nicht ganz unwichtig). Oder man studierte Slawistik, um später in einem Land mit einer slawischen Sprache Korrespondent der NZZ oder des «Echos der Zeit» werden zu können. Man ging in Vorlesungen zu Volks- und Betriebswirtschaft. Man hängte ein paar Vorlesungen in Kunstgeschichte an. Oder in Soziologie. Oder in beidem.

War das so schlecht? Selbst wenn man kein Abschlussexamen machte, zum Beispiel weil man mittlerweile schon eine Familie zu ernähren hatte?

Die neue Medienwelt ist eine Chance für Spezialzeitschriften…

Dass die (neuen) Online-Journalisten Medienkompetenz haben müssen und auch wirklich haben, ist wichtig und wunderbar. Wir brauchen Dispatcher! Im Flugwesen, damit die von mir gebuchte Maschine zur richtigen Zeit am richten Flugplatz auf mich wartet. In der Logistik, damit ich die Bananen im Supermarkt kaufen kann, bevor sie braun geworden sind. Und im Nachrichtenbereich, damit ich in der komplex gewordenen Medienwelt auch auf dem von mir benutzten Medium, Radio, Smartphone oder was immer, die Meldung vom dritten Goal des FCB im Match gegen den FCZ rechtzeitig zugespielt erhalte. Nichts also gegen medienkompetente News-Dispatcher.

Wir brauchen, meine ich, aber auch andere Informationen, tiefergehende. Gerade auch, weil die Welt komplexer geworden ist. Und das ist die grosse Chance jetzt der Spezialzeitschriften. Wir brauchen Hintergrundberichte, Analysen, Kommentare – von Leuten, die vielleicht über keine Medienkompetenz verfügen, aber von der Sache etwas verstehen. Spezialzeitschriften wie «Die Gazette» in München, die «Blätter für deutsche und internationale Politik» in Berlin oder «Foreign Affairs» in den USA: sie haben jetzt die grosse Chance, zu punkten. Denn hier, bei diesen Spezialzeitschriften, schreiben Sachverständige. Sie nennen sich deshalb auch kaum mehr Journalisten, sie schreiben ja nicht nur für den «Jour», den Tag, sondern für den Monat (bei den «Blättern»), für zwei Monate (bei «Foreign Affairs»), oder gar für ein Vierteljahr (bei der «Gazette»). Sie nennen sich deshalb meist – in kluger Abgrenzung – nicht Journalisten, sondern einfach Publizisten.

… und für Webportale, die nicht von der Werbung abhängig sind

Aber auch neue Webportale haben eine Chance. Webportale, die nicht nur auf «Resonanz» aus sind. Werbeportale, die als Zweck nicht die «Vermarktung» von «Aufmerksamkeit» haben, sprich: für die Werbeindustrie genügend Kontakte herstellen wollen und müssen. Sondern Webportale, die die Relevanz (wieder) suchen: propublica.org in den USA, globalresearch.ca in Kanada, nachdenkseiten.de in Deutschland, infosperber.ch in der Schweiz, um einige Beispiele zu nennen.

Sie alle brauchen zwar auch Geld, um publizieren zu können, aber sie suchen es nicht primär bei der Werbeindustrie. Sie wollen nicht abhängig werden von den Grossen und Grössten, den transnationalen Konzernen und anderen Wirtschaftsgiganten. Sie suchen ihr Geld von den Leserinnen und Lesern, von den Usern und Sympathisanten: über kleine und grosse Spenden, von Privaten, aber auch von alten und hoffentlich neuen Stiftungen.

Medienkompetenz ist nicht gleich Sachkompetenz. Und Sachkompetenz ist nicht gleich Medienkompetenz. Allerdings, um genau zu sein: auch Medienkompetenz ist eine Sachkompetenz. Eine von vielen.

Merke: Wenn Medienleute ein Interview geben, darf man ihre Worte – und auch ihre Wörter – ruhig auf die Goldwaage legen. Schliesslich sind sie «kompetent».

Kleiner Nachtrag:

Man sehe sich etwa die Kolumne von Patrik Etschmayer vom 1.4.2013 auf dem Online-Portal news.ch an. Was da den Leserinnen und Lesern zugemutet wird, ist schlicht unter jedem Hund.

Siehe Etschmayers Kolumne unten als PDF (unter «weiterführende Informationen: Ein Beispiel für die «Qualität» auf dem Online-Portal news.ch). Die inhaltlichen, orthographischen und grammatikalischen Fehler sind dort en détail aufgelistet. (Die Online-Version von Etschmayers Kolumne wurde von www.news.ch zwischenzeitlich in etlichen Punkten korrigiert. Man will sich ja nicht mehr blamieren als nötig…).


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor hat 25 Jahre als Journalist und 20 Jahre als Verlagsmanager gearbeitet. Von seiner Ausbildung her ist er promovierter Historiker; später absolvierte er ein Zusatzstudium in St. Gallen in Betriebswirtschaft.

Zum Infosperber-Dossier:

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