Kommentar

Offener Brief an den AZ-Journalisten Stefan Schmid

Christian Müller © zvg

Christian Müller /  Der Inland-Chef der az Nordwestschweiz glossierte den Abstimmungstag vom 5. Juni 2016. Die Rolle der Medien hat er dabei übersehen.

Lieber Stefan Schmid

Sie sind ein hervorragender Journalist. Allein schon Ihretwegen lohnt es sich, die Aargauer Zeitung, die Solothurner Zeitung oder welches Kopfblatt der az Nordwestschweiz auch immer, abonniert zu haben. Nein, natürlich bin ich nicht immer einverstanden mit dem, was Sie schreiben. Aber ich lese die Zeitung ja auch nicht, um meine eigenen Ansichten bestätigt zu bekommen. Ich lese die Zeitung nicht zuletzt, um auch andere, neue Sichtweisen zu erfahren.

Ihre «Analyse zum anstehenden Abstimmungsfestival auf Bundesebene» mit der Headline «Die Freakshow vom 5. Juni» bedarf nun aber zwingend einer Ergänzung, denn Sie haben, absichtlich oder unabsichtlich, einen ganz essentiellen Punkt einfach unter den Teppich gekehrt.

Sie schreiben: «Bis Anfang Juni müssten sich die Stimmbürger etwa zur Frage eine Meinung bilden, ob künftig ein Grundeinkommen von rund 2500 Franken an jeden erwachsenen Bewohner der Schweiz ausbezahlt werden soll. Weiter müssen sie entscheiden, ob die Manager von Swisscom, Post und SBB nur noch so viel wie ein Bundesrat verdienen sollen (es sind läppische 475000 Franken). Dann bedarf es einer Klärung, ob die Strassenkasse mit zusätzlichen Geldern aus der Mineralölsteuer alimentiert werden soll und ob künstlich befruchtete Embryonen unter strengen Voraussetzungen genetisch untersucht werden dürfen. Letzteres kommt Ihnen vielleicht bekannt vor. Darüber haben wir vor Jahresfrist im Rahmen einer Verfassungsänderung schon einmal abgestimmt. Last, but not least werden wir zu unserer Haltung in Sachen Bundesasylzentren und beschleunigten Asylverfahren gefragt.»

Schon der Stil Ihrer wie so oft spitzen Schreibe lässt vermuten, dass Sie keine dieser fünf Abstimmungsvorlagen eines Urnengangs für würdig halten. Und das bestätigen Sie später auch im Text, wörtlich: «Speziell am Abstimmungssonntag Anfang Juni ist freilich nicht nur das überfrachtete Programm. Mindestens so bemerkenswert ist, dass es sich um eine besonders tolle Freakshow handelt. So will uns eine Handvoll Konsum-Journalisten weismachen, warum es bei Post, Swisscom und SBB Lohndeckel und Ausschüttungsverbote an die Bundeskasse braucht. Alliierte haben sie keine. Von Genf bis Romanshorn, links bis rechts, Berg und Tal sind alle relevanten Kräfte gegen die Vorlage. Eine weitere ziemlich überschaubare Truppe von Idealisten, Künstlern, Utopisten und einem ehemaligen Bundesratssprecher tischt uns die neckische Idee mit dem Grundeinkommen auf. Man setzt sich wohl nicht in die Nesseln, wenn man auch dieser Vorlage in der von protestantischem Arbeitsethos durchdrungenen Schweiz eine Kanterniederlage prophezeit.» Und so weiter, und so fort.

Dann aber kommt es, zehn Zeilen vor Schluss: «Wir müssen uns wohl oder übel immer wieder mit nebensächlichen und/oder chancenlosen Begehren herumschlagen. Wie am kommenden 5. Juni. Fast ein bisschen l’art pour l’art. Eine Abstimmung um der Abstimmung willen. Das gibt uns das gute Gefühl, in diesem Land etwas zu sagen zu haben. Und täuscht vielleicht etwas darüber hinweg, dass die Macht des Souveräns in einer vernetzten Welt viel kleiner ist, als es uns lieb ist.»

Lieber Stefan Schmid

Sie haben recht: Die drei Volksinitiativen haben kaum eine Chance, angenommen zu werden. Aber dass dem so ist – noch liegen die Partei-Parolen nicht alle vor – ist nicht nur ein Problem der Partei-Politik, sondern auch eine Schuld – ja, ich brauche das Wort Schuld – der grossen Medien.

Was müssen wir doch die ganze Zeit lesen oder uns anhören, welcher Parteimann zu welchem Thema was gesagt hat, welche Parteifrau eine Chance hat, in der Partei eine neue Funktion zu erhalten, welcher Parteipräsident oder welche Parteipräsidentin aus welchem Grund daran denken, das Präsidium der Partei abzugeben, und heute, am Tag einiger Partei-Delegierten-Versammlungen, natürlich, welche Parteipräsidentin welche Partei-Politik wie zu führen gedenkt. Partei-Personenkult und Spekulation bis zum Geht-nicht-mehr!

Was aber tut Ihr, liebe Journalistinnen und Journalisten, wenn eine Gruppe von Leuten, die aus persönlichem Engagement und aus parteiunabhängig erfolgten Überlegungen neue Ideen, Vorschläge und Projekte in die öffentliche Diskussion bringen will? Dann ist es – Zitat, siehe oben – gerade noch eine «neckische Idee». Wenn überhaupt zum Thema noch diskutiert wird, dann höchstens über die Finanzierung.

Ich wage in einem konkreten Fall eine Prognose. Letztes Jahr hat eine kleine Gruppe von – Sie würden vielleicht schreiben: – «blauäugigen Utopisten» über 110’000 Unterschriften für die sogenannte Vollgeld-Initiative zusammengetrommelt. Keine Partei hat sich um das Thema gekümmert. Es war ja ein Wahljahr, da galt es, sich um sich selbst zu kümmern. Die – ich wähle Ihre Worte – «Idealisten, Künstler und Utopisten» arbeiteten weitestgehend ehrenamtlich und finanzierten die Drucksachen und andere Aufwendungen aus der eigenen, privaten Tasche. Am 1. Dezember 2015 wurden die Unterschriften in Bern der Staatskanzlei übergeben; die Initiative war also erfolgreich zustandegekommen. Aber bereits am 24. Februar 2016 lehnte der Bundesrat die Initiative kurzweg ab mit der Begründung, sie laufe den Interessen des Finanzplatzes Schweiz entgegen.

Seit November 2015, also inklusive Unterschriften-Übergabe und Ablehnung durch den Bundesrat, gab es laut Schweizer Medien-Archiv in der Schweizer Medienlandschaft 80 Erwähnungen der Vollgeld-Initiative: fast alles in Form einer mageren und belanglosen Fünf-Zeilen-sda-Meldung unter der Rubrik «In Kürze». Die Artikel, die sich inhaltlich mit der Initiative befasst haben, können mit den Fingern einer Hand abgezählt werden. Zu einer Medienkonferenz der Initianten im letzten Sommer an der Uni Zürich mit Prof. Joseph Huber, einem der wissenschaftlichen Befürworter der Initiative, waren genau zwei interessierte Journalisten gekommen: ein Lokaljournalist aus Winterthur und ich.

Und warum das? Weil die Journalistinnen und Journalisten a) keine Zeit mehr haben, sich in ein ihnen unbekanntes Thema zu vertiefen, und weil sie b) den Auftrag der Verlage haben, Themen ins Blatt zu rücken, die Leserinnen und Leser bringen und online zusätzliche Klicks erzeugen. Also um Gotteswillen keine neuen Ideen, von denen man noch nie gehört hat! Und schon gar nicht Ideen, die unseren Banken nicht genehm sind! Denn keiner der Schweizer Medien-Konzerne kann und will es sich leisten, sich mit den Banken anzulegen.

Und genau so wird es 2017 oder 2018, wann immer die Initiative im Parlament «diskutiert» werden wird, und 2019 oder 2020, wann immer sie zur Abstimmung kommt, ebenfalls sein. Die Medien werden das Thema unter dem Teppich halten. Über Initiativen, die eh keine Chance haben, wird im besten Fall noch gespöttelt.

Zum Inhalt des konkreten Falles: Das sogenannte Vollgeld-System will den Banken untersagen, Kredite in Höhe von 1 Million Franken zu sprechen und für diese 1 Million Franken den vollen Zins zu verlangen, obwohl sie dafür nur 45’000 Franken in der eigenen Kasse haben müssen. Die Banken sollen nicht mehr Geld selber «schöpfen» dürfen, nicht mehr Geld einfach im Computer generieren dürfen, und also nicht mehr Geld «verdienen» dürfen mit der Ausleihung von Geld, das sie selber gar nicht haben. Das Vollgeld-System wird in etlichen Ländern in der Wirtschafts-Wissenschaft zunehmend positiv diskutiert, in Island – durch die Finanzkrise schlauer geworden – gibt es das Vollgeld sogar als Projekt auf Regierungsebene. Doch überall sorgt die Lobby der Finanzindustrie dafür, dass das Thema gar nicht erst ernsthaft zur Sprache kommt. Nur in der Schweiz, die die direkte Demokratie hat, hat diese Idee die Chance, mit einer Initiative überhaupt ins öffentliche Gespräch zu kommen.

Oder besser: hätte diese Idee die Chance, ins öffentliche Gespräch zu kommen – wenn die Medienleute an neuen Ideen denn wirklich interessiert wären. Aber das sind sie eben nicht. Sie kümmern sich lieber um das Polit-Theater auf den Partei-Bühnen und um deren Gallionsfiguren.

Noch habe ich kein einziges, auch nur halbwegs vernünftiges Argument gegen das Vollgeld-System gehört oder gelesen. Und alle Leute in meinem Umfeld, die sich die Mühe genommen haben, die Vollgeld-Initiative inhaltlich zu verstehen, haben sie sofort unterschrieben.

Aber Sie haben recht, die direkte Demokratie ist eh eine Illusion – siehe oben Ihren letzten Satz: «… dass die Macht des Souveräns in einer vernetzten Welt viel kleiner ist, als es uns lieb ist.» Die direkte Demokratie ist aber eine Illusion auch und nicht zuletzt, weil die Medien ihre Aufgabe der Aufklärung und Information nur noch sehr oberflächlich wahrnehmen.

Lieber Stefan Schmid

Ich bleibe bei meinem Urteil: Sie sind ein hervorragender Journalist. Aber gerade deshalb schreibe ich diesen Brief Ihnen, mit der Aufforderung, auch dort genau hinzusehen, wo etwas nichts mit Partei-Politik zu tun hat. Vielleicht lesen Sie in Ihren nächsten Ferien einmal das höchst bedenkenswerte Buch des Sozialphilosophen Oskar Negt: Nur noch Utopien sind realistisch.

Mit freundlichem Gruss

Christian Müller

Flash: Eben wird bekannt, dass Stefan Schmid Chefredaktor des St. Galler Tagblattes wird. Das St. Galler Tagblatt gehört zur NZZ-Medien-Gruppe. – Wir gratulieren herzlich. An unserer Bitte an ihn für mehr Beachtung neuer, parteiunabhängiger Ideen ändert das natürlich nichts.
cm, 18.4.2016, 16.35 Uhr.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Christian Müller war zuerst 25 Jahre Journalist, zuletzt Chefredaktor der damals grössten Zentralschweizer Tageszeitung "Luzerner Neuste Nachrichten LNN", bevor er bei Ringier ins Verlagsmanagement einstieg. Seine letzte berufliche Position war CEO der Vogt-Schild Mediengruppe in Solothurn, die nach seiner Pensionierung in der AZ Mediengruppe aufging. Heute ist er Mitglied der Redaktionsleitung Infosperber und Chefredaktor der deutschen Vierteljahreszeitschrift DIE GAZETTE.

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5 Meinungen

  • am 17.04.2016 um 18:38 Uhr
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    Lieber Christian Müller
    Bitte gestatten Sie, dass ich meinen Namen aus vollem Herzen unter Ihren Brief setze.
    Mit freundlichen Grüssen und herzlichen Dank für Ihre Intervention.

    Ueli Ganz

  • am 18.04.2016 um 07:07 Uhr
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    Mehr Volksentscheide: Das Volk kümmert sich vermehrt um politische Fragen!

    Seit die Mitte-Parteien die Dominanz in der Schweizer Politik verloren haben, wird es immer schwieriger, Kompromisslösungen zu finden. Das mag man bedauern. Die Zeiten, wo Polit-Prominente Auswahl, Gewicht und Priorität der politischen Themen bestimmen konnten, sind endgültig vorbei. Freuen wir uns doch über den neuen politischen Aktivismus der Bevölkerung. Er könnte dazu führen, dass die Stimmbeteiligung steigt und das Wissen, wie mit Abstimmungsvorlagen mit Gegenvorschlägen umgegangen werden muss, zunimmt. Hier eine Überforderung der Stimmbürgerschaft zu sehen, ist doch abstrus. Es ist eine Aufforderung, sich mit politischen Fragen verschiedenster Art auseinanderzusetzen.

  • am 18.04.2016 um 08:29 Uhr
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    Es ist bedauerlich, dass es ausgerechnet solchen Initiativen -wie die erwähnte Vollgeld-Initiative- so schwer gemacht wird, Gehör zu finden.
    Je mehr eine Initiative für die Interessen des Volks einsteht, und je mehr sie die Interessen der sie ausnutzenden/betrügenden (Finanz)Elite beschneidet, desto mehr wäre unsere direkte Demokratie gefordert: Die Realität zeigt aber bis jetzt, dass die Demokratie da aufhört, wo Profit-interessen tangiert werden.
    Von wem werden wir eigentlich regiert? Von unserer (demokratisch regierten, legitimierten) Regierung oder von der Hochfinanz?

  • am 18.04.2016 um 22:17 Uhr
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    Herr Schmid, es würde mich freuen von Ihnen zu lesen, dass Sie zu Vollgeld Ihre Meinung erst gebildet haben, nachdem Sie das Buch über die monetäre Modernisierung von Josef Huber gelesen haben. Natürlich kann man ein Buch auch mit einem verzerrenden Filter lesen und dabei gute Ideen schlecht finden. Einfach macht es uns unsere genossene Erziehung nicht, unvoreingenommen eine Meinung zu bilden. Aber andern Leuten zu helfen eine fundierte Meinung zu bilden, das kann man von einem Journalisten erwarten, wenn er Texte für sich selber sprechen lässt anstatt eine Seite im Konditionalis und die andere im Imperfekt zu schreiben. Besten Dank für Ihre künftig aus der Metaposition geschriebenen Aufklärungen.

  • am 30.04.2016 um 17:01 Uhr
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    Wie wir wissen und uns in unzähligen Bebilderungen eingetrichtert wurde besteht das Volk aus Schafen; mit Schafen gibt es nichts zu diskutieren, allenfalls gibt man ihnen schwerere oder leichtere Rutenschläge. (lt. Deutschem Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm, Ste. 1618. ficken: «ein Thier mit der Ruthe peitschen, ficken». ihm einen kurzen Streich versetzen, auf dass das Tier auf dem rechten Weg bleibt)

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