DasradikaleBse

«... machten uns keine Gedanken darüber, warum die Juden erschossen wurden.» © ZDF/Stefan Ruzowitzky

Der vergessene Holocaust in «Das radikal Böse»

Jürgmeier /  1945 – das war eine Zeitenwende. Das Ende des grossen Mordens. Der Beginn der Fragen. Wie konnten ganz normale Menschen das tun?

In diesem Jahr, 2015, wird, siebzig Jahre danach, wieder einmal und zu Recht, das Ende des Zweiten Weltkrieges gefeiert. Und der Opfer des Holocaust gedacht. Dabei denken wir vor allem an Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Sachsenhausen, Buchenwald und all die anderen Vernichtungs- beziehungsweise Konzentrationslager. An die industriell organisierte Tötung und «Entsorgung» von Millionen von Menschen.

Das «Un-Menschliche» ist das Menschenmögliche

Weniger im Blickfeld der Erinnerung sind die zwei Millionen ZivilistInnen, grösstenteils Jüdinnen und Juden, die im Rahmen des Russlandfeldzuges von deutschen Einsatzgruppen sowie Polizeibataillonen systematisch ermordet wurden. «Öffentlich, zum Teil vor Zuschauern, mit Gewehren und Pistolen, von Angesicht zu Angesicht» (Aus dem Begleitheft für Schulen zum Film «Das radikal Böse» des österreichischen Oscar-Gewinners Stefan Ruzowitzky).

Die Konstruktion des «Un-Menschen» war schon bei den SS-Truppen – welche für die Umsetzung der «Endlösung der Judenfrage» in den Tötungsfabriken zuständig waren – nicht wirklich durchzuhalten. «Es gibt Ungeheuer», schrieb der italienische Schriftsteller, Chemiker und Auschwitz-Überlebende Primo Levi, «aber sie sind zu wenig, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlich ist, das sind die normalen Menschen.»

Bei den Exekutionen auf dem Gebiet der heutigen Ukraine und Weissrusslands, dem sogenannt «vergessenen Holocaust», zeigte sich definitiv, dass Massenmörder Menschen sind «wie du und ich, die Dinge tun, von denen sie glauben, sie seien notwendig für das allgemeine Wohl». So formuliert es Benjamin Ferencz, der Chefankläger des Prozesses gegen die so genannten Einsatzgruppen, in «Das radikal Böse». Menschen, die «niemals ihre Nachbarn bestehlen oder alte Damen auf der Strasse niederschlagen» würden, hält der Historiker Christopher Browning vor Ruzowitzkys Kamera fest, «können ohne weiteres hunderte Menschen erschiessen, die zur Zielgruppe gehören.» Das «Un-Menschliche» war und ist das Menschenmögliche.  
Dokumentation eines Massenmords ohne Action, Knallerei und Blut

Das im Kontext nationalsozialistischer Ideologie und Organisation zur Gewohnheit gewordene Morden wird im Film «Das radikal Böse» (am 1. Mai vom ZDF zu später Stunde ausgestrahlt und noch kurze Zeit in der ZDF-Mediathek abrufbar) auf beklemmende Weise dokumentiert. Ohne Action, Knallerei und Blut. «Mit Hilfe von Originaldokumenten wie Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und Gerichtsprotokollen legt er [Stefan Ruzowitzky, Jm] Gedanken und Gefühle der Täter offen.» Gelesen von Schauspielern. Analysiert von Experten. Mit Laien gestellte Szenen, stilisierte Darstellungen von sozialpsychologischen Experimenten und vereinzelte Gespräche mit Zeitzeugen machen diesen Essayfilm zum einen zum historischen Dokument, zum anderen zur Ermahnung, dass der Schoss noch fruchtbar ist, «aus dem das kroch» (Bertolt Brecht).

Die von professionellen Sprechern «auf unheimlich alltägliche Art» wiedergegebenen, «teilweise unendlich grausamen, menschenverachtenden Aussagen aus Briefen und Tagebüchern» belegen: Die Täter wussten, was sie taten. Und sie erzählten es ihren Angehörigen «hinter der Front». «Ich habe mich bemüht, nur Kinder zu erschiessen. Das ging so vor sich, dass sie die Mütter bei sich an der Hand führten, mein Nachbar erschoss dann die Mutter und ich das dazugehörige Kind, weil ich mir aus bestimmten Gründen sagte, dass das Kind ohne seine Mutter doch nicht mehr leben konnte.» Schreibt einer von ihnen. «Gerade die Briefe, in denen erst liebevoll die eigenen Kinder gegrüsst werden, bevor detailliert auf die Exekutionen eingegangen wird, vermitteln sehr direkt, wie alltäglich das Morden für sie gewesen sein muss» (aus Filmheft). Niemand hätte behaupten können, er oder sie habe von nichts gewusst.

Prinzip Gehorsam und Männlichkeitskonzept: Eine mörderische Mischung

«Das radikal Böse» erinnert an das, was gerne verdrängt wird – dass die «ganz normalen Männer» (Titel eines Buches von Christopher R. Browning über das Reserve-Polizeibataillon 101) nicht aus Angst um ihr eigenes Leben taten, was ihnen befohlen. Verschiedene Soldaten berichten darüber, dass sie selbst oder einzelne ihrer Kameraden sich geweigert hätten, an Erschiessungen teilzunehmen, ohne «mit irgendwelchen Strafmassnahmen bedroht» zu werden, «schon gar nicht mit Erschiessung».

Obwohl es die Möglichkeit der Befehlsverweigerung gab – «Man wird dann schnell versetzt, um die Tötungsmaschinerie nicht zu stören», erklärt der Psychiater Robert Jay Lifton –, haben die wenigsten von ihr Gebrauch gemacht. «Ich hatte Bedenken, dass es mir in Zukunft schaden könnte, wenn ich mich als zu weich hinstellen würde… Ich wollte nicht, dass andere den Eindruck hatten, ich sei nicht so hart wie man hätte sein müssen… Ein Führer, der gesagt hätte, er sei für diese Dinge zu weich, dem wäre doch jede Führungsqualität abgesprochen worden.» Die meisten haben im damaligen (ideologischen) Kontext gar nicht daran gedacht, «dass diese Befehle Unrecht sein könnten». Sie haben sie befolgt, «weil sie von der obersten Staatsführung kamen, und nicht etwa weil ich Angst hatte».

In diesen Aussagen wird sichtbar, dass es vor allem das Prinzip Gehorsam und das Männlichkeitskonzept (in den Augen der anderen nicht als «Schlappschwanz» erscheinen wollen) sind, die aus ganz gewöhnlichen Männern (und in entsprechenden sozialen Verhältnissen auch aus Frauen) zuverlässige Massenmörder machen.

Der Film weist mit der Dokumentation sozialpsychologischer Experimente beziehungsweise realer gesellschaftlicher Ereignisse über das Vergangene hinaus und macht deutlich, «dass das ‹Böse› bis heute direkt unter der Oberfläche der Zivilisation lauert und keineswegs ein historisches Phänomen darstellt» (Filmheft). Besonders beklemmend das bekannte Milgram-Experiment, in dem bis zu 65% der Testpersonen einen Schüler wegen falscher Antworten mit «maximal starken Stromstössen» bestrafen, «von denen sie wissen, dass sie tödlich sein könnten». Und dies ohne jede Androhung von Sanktionen, sondern nur aufgrund von mehr oder weniger bestimmt erteilten Anweisungen.

«Ich möchte nicht in 50 Jahren einen Film über Darfur sehen, weil sich jetzt niemand bewegt»

Ist die vom Militärpsychologen Dave Grossman im Film formulierte Erkenntnis, «dass wir Soldaten heranziehen müssen, die nicht nur Befehlsempfänger sind» in den Armeen Europas, dieser Welt umgesetzt worden? Ist die Erziehung zum Ungehorsam in unseren Schulen und Elternhäusern zur Normalität geworden? Und dürfen wir ernsthaft hoffen, dass Menschen – die in freiheitlich-demokratischen Verhältnissen aus Angst vor ökonomischen Nachteilen oder sozialer Ausgrenzung abweichende Meinungen für sich behalten und gegenüber Ungerechtigkeiten beziehungsweise Menschenverachtung schweigen – in Unrechtsstaaten laut&öffentlich Widerspruch formulieren würden? Dass sie, dass wir eingreifen würden, wenn vor unseren Augen Menschen aus ihren Wohnungen gezerrt, niedergeknüppelt oder ermordet würden?

Der Film erspart uns auch die Erinnerung an den Fall Kitty Genovese in New York nicht: «Im Jahr 1964 wurde die junge Frau im Hof eines Wohnblocks überfallen und vergewaltigt. Der Täter verliess den Tatort, kehrte aber nach 20 Minuten zurück, misshandelte sein Opfer erneut und tötete es. Erwiesenermassen haben 38 Bewohner der umstehenden Häuser den Vorgang wahrgenommen, doch niemand half der jungen Frau. Das Fazit der Sozialpsychologie war, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Aussenstehender eingreift, sinkt, je mehr ‹Bystander› einen Vorgang beobachten» (aus Filmheft).

Was geschieht heute vor versammelter Welt-Medien-Öffentlichkeit, ohne dass eine oder einer von uns aufschreit, von seinem oder ihrem Sessel aufsteht und versucht, das Unerträgliche zu stoppen? «Theoretische Erörterungen reichen nicht, auch wenn sie notwendig sind. Es braucht das persönliche Engagement jedes Einzelnen, gegen zerstörerische Entwicklungen aufzutreten», mahnt Robert Jay Lifton. Und der katholische Priester sowie Genozidforscher Patrick Desbois sagt in dem 2013 produzierten dokumentarischen Filmessay «Das radikal Böse» mit Blick auf Gegenwarten: «Ich möchte nicht in 50 Jahren einen Film über Darfur sehen, weil sich jetzt niemand bewegt.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

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30 Meinungen

  • am 4.05.2015 um 12:15 Uhr
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    Ein bedenkenswerter Gedanke von vielen aus dem Film: «Völkermord beginnt damit, dass man andere Menschen als weniger wert als sich selbst einschätzt und verachtet.» Das gilt besonders in der Politik, insbesondere der Ausländerpolitik! Wehret den Anfängen!

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 4.05.2015 um 12:48 Uhr
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    Der Satz des Filmemachers beeindruckt. Fernseh-Filme eignen sich als Aufklärung in Richtung «Aufschrei» gegen das"Radikal-Böse» (Kant) nur bedingt, wenn das dreimalige Falschschreiben von «Darfur» (nicht Dafur) zeigt, dass man sich mit dieser Geschichte nie näher befasst hat. Das Problem wurde nach dem Sturz von Gaddafi noch schlimmer, der, selber ein Massenmörder, ein Todfeind des Massenmörders Bashir war und die Darfur-Rebellen unterstützte, welche den Vorwand für den (nicht allgemein anerkannten) Völkermord im Südsudan abgaben. Mit «Erziehung zum Ungehorsam» ist es so eine Sache. Die 3 Polizisten, welche am 21. Juni 1845 in Luzern den zum Tode verurteilten Revolutionär Steiger befreit haben, wurden so wenig dazu erzogen wie die Männer vom 20. Juli 1944. Und wer sich in einem Spital weigert, an einer Abtreibung mitzuwirken, ist schnell entlassen. Politischen Ungehorsam kann nur praktizieren, wer zuerst den Gehorsam gelernt hat. Gehorsam muss mit Verantwortung verbunden werden.

    PS. «Holocaust» (Begriff, den 1945 u. später niemand kannte, 1902 von Dürrenmatts Grossvater für die deutsche Politik geprägt). Als Grass daran erinnerte, dass im Osten 6 Millionen auch deutsche Soldaten geopfert worden waren, ferner in Danzig seine Mutter u. Schwester vergewaltigt, gab er auch gleich zu, bei der Waffen-SS gedient zu haben. Die 6000 ertrunkenen Häftlinge v. «Arcona» u. 2. Schiff v. 3. Mai 1945 gehören zu den teuflischen Verlegenheiten des Kriegsendes. Siegesfeiern bleiben beschämend.

  • am 4.05.2015 um 14:11 Uhr
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    Sehr prominent unter den Mördern war ein Schweizer aus Schaffhausen, Karl Jäger, unter dessen Leitung 1941/42 die systematische Ermordung der litauischen und deutschen Juden erfolgte. Bei den deutschen Juden, zu denen gehörten auch meine Grosseltern, handelte Jäger aus eigener Initiative und wurde deshalb von Himmler gerügt.

    http://www.spiegel.de/einestages/nazi-taeter-a-946735.html

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 4.05.2015 um 14:41 Uhr
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    In Schaffhausen hat man schon 1915,16,17 und 18 mit über 1000 Personen jeweils den Geburtstag des Kaisers gefeiert, und es war tatsächlich, wiewohl es auch noch ganz andere gab, etwa der hocheindrückliche Stadtpräsident und Nationalrat Bringolf und den späteren Ständerat Bächtold, auch Paul Schmid-Ammann, Bauernsekretär und später Sozialist, eine teilweise zwiespältige Gesellschaft, weswegen man heute allgemein annimmt, dass die Bombardierung vom 1. April 1944 durch die US-Luftwaffe vorsätzlich erfolgte. In Schaffhausen gab es im Juni die schlimmsten fremdenfeindlichen Auswüchse der Schweizer Geschichte, übrigen in aller Form Kristallnacht genannt, Kioske deutscher Frauen wurden ebenso zusammengeschlagen wie die Scheiben deutscher Geschäfte eingeschlagen, dabei war man hier noch im 1. Weltkrieg so deutschfreundlich gewesen wie nirgends in der Schweiz. Der genannte Jäger ist wie Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti aus Lugano einer von denen, die in Geschichtsbüchern klar zu kurz kommen.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 4.05.2015 um 14:43 Uhr
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    Korr. Die Schaffhauser «Kristallnacht», auch so genannt, erfolgte im Juni 1945.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 4.05.2015 um 15:36 Uhr
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    Noch zu Karl Jaeger: In Schaffhausen konnte ich über die Zivilstandsnachrichten betr. seine Geburt 1888 im Archiv der Schaffhauser Nachrichten keine Aktivitäten vor Ort ausmachen, im Gegensatz zu zahlreichen Personen, die sich entweder deutschfreundlich oder darüber hinaus nazifreundlich betätigten. Seine Karriere, als Staatsbürger des Deutschen Reichs, begann in Waldkirch bei Freiburg im Breisgau, wo er schon ab 1923 aktiver Nationalsozialist war. An ihn wurde in Waldkirch am «Tag des unbequemen Denkmals» erinnert. Insofern kann Jaeger, trotz meiner Andeutungen betr. Schaffhauser Geschichte von 1914 bis 1945, Schaffhausen und der Schweiz wohl nicht überproportional «angelastet» werden.

  • am 4.05.2015 um 17:40 Uhr
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    Im Buch von Wolfram Wette «Karl Jäger» steht, dass Jäger am 20.9.1888 in Schaffhausen geboren wurde. Der Autor bringt einen Beleg dafür.
    Die Tatsache, dass Jäger in der Schweiz geboren wurde, ist keinen Vorwurf gegen die Eidgenossenschaft. Genauso wenig kann man der Schweiz vorwerfen, dass hierzulande einen Himmler Freund gab:
    http://shraga-elam.blogspot.ch/2009/08/himmlers-berner-vertrauter.html

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 4.05.2015 um 18:52 Uhr
    Permalink

    @Redaktion. Danke, dass der mehrfache Fehler der Falschschreibung von «Darfur» korrigiert wurde. Bei nur «einmal falsch» wäre es ein Verschrieb gewesen, so aber bestätigte es unfreiwillig, wie wenig wir – nehme mich da nicht mal aus – uns eigentlich mit den Verhältnissen im Südsudan befassen. @Shraga Elam. Ich habe Ihnen weiter oben bestätigt, dass man in Schaffhausen lediglich die Zivilstandsnachricht von der Geburt Karl Jägers öffentlich registriert hat, was 1888 in den Schaffhauser Nachrichten, damals «Intelligenzblatt» genannt, publiziert wurde. Dass Sie, Herr Elam, vor gelinde gesagt umstrittenen Einschätzungen nicht zurückschrecken, sollte meines Erachtens nicht zu zu einer Abstempelung im Sinne eines Ausschlusses vom historischen Diskurs führen. Man arbeitet und recherchiert nicht, um zu bestätigen, was andere gern hören wollen. Dies heisst aber nicht, dass ich Ihre Einschätzungen zur Schweizergeschichte durchwegs teile. Es genügt, was ich bei biographischen Arbeiten meinerseits feststelle, dass keine Person der Schweizergeschichte /auch wohl anderer Nationen/ vor dem Gericht der Geschichte makellos bestehen kann. «Das ist des Unglücks eigentliches Unglück, das selten drin der Mensch sich rein bewahrt.» (Grillparzer) Gilt für mich aber eher für den von mir noch respektvoll gewürdigten G. Grass als für den von Ihnen posthum kritisierten und entheroisierten Grüninger.

  • am 4.05.2015 um 19:45 Uhr
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    Ja diese Geschichtsbildung aus dem TV, Zeitungen und Wikipedia… Bezüglich Einsatzgruppen möge man vielleicht doch eher zu Mallmanns dreibändiger Edition «Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion» sowie «Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation» greifen, oder auch zu Ralf Ogorrecks «Die Einsatzgruppen und die ‹Genesis der Endlösung’». Dass die Einsatzgruppenprozesse kaum haltbare Fakten hervorgebracht haben, weiss man spätestens seit Bruno Streckenbach 1955 unerwartet aus der Sowjet-Gefangenschaft zurückkehrte und die Argumentation des Ohlendorf-Prozesses kollabierte. Die Einsatzgruppen bestanden übrigens auch nicht aus «Soldaten», sondern aus Kriminalpolizisten, SD-Geheimdienstlern und SS-Männern. Ihr Auftrag war Partisanenbekämpfung, Liquidierung von Politkommissaren sowie Informationssammlung. Ab September kam die Massenerschiessung von Juden hinzu, nachdem Stalin im August die Deportation und teilw. Ermordung von insg. knapp 1 Million Russlanddeutscher bekanntgab (darunter die 400’000 Wolgadeutschen, vgl. I. Fleischhauer). Das Sowjetregime war für das NS-Regime bekanntlich «jüdisch». Zudem diskutierten Hitler und Goebbels Mitte August das Buch des New Yorker Juden Kaufman, der die Auslöschung des deutschen Volkes forderte, was man in Berlin als offiziellen US-jüdischen Plan interpretierte.

    @P. Meier: Conti zog mit zwei Jahren von Lugano nach Berlin, zusammen mit seiner deutschen Mutter. Jäger und v.a. Riedweg sind treffendere Schweizer Beispiele.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 4.05.2015 um 20:21 Uhr
    Permalink

    @Roelli. Wichtiger als Conti war seine Mutter, die Exfrau des Posthalters von Lugano,Nanna Conti-Pauli, welche als Reichshebamme Hitlers eine wichtige propagandistische Rolle spielte, auch im Ausland, zum Beweis, wie unter Hitler die Geburtenzahlen gestiegen seien usw. Und Conti war nun mal in den vierziger Jahren Präsident der Deutschen Paracelsus-Gesellschaft, schrieb am 24. September 1941 den Leitartikel im Völkischen Beobachter, was uns Paracelsus bedeute, das war also als schweizerischer Bezug ideologisch keine Kleinigkeit. Er stand durchaus zu seiner schweizerischen Herkunft, erdrosselte sich aber dann am 6. oder 7. Oktober 1945 in Nürnberg in seiner Haftzelle, die Mutter, die angesehen blieb bis zu ihrem Tod 1951, erfuhr es erst Monate später. Berüchtigt bleiben die Contis für ihre Befürwortung der Euthanasie und der noch heute legalen Abtreibung aus Gründen des erbgesunden Nachwuchses.

  • am 4.05.2015 um 20:42 Uhr
    Permalink

    @P. Meier: Es wird wohl niemand die Bedeutung des ehem. Reichsgesundheitsführer Conti kleinreden, aber seine Mutter war eben Deutsche und nicht Schweizerin, hat sich ein Jahr nach Geburt von Leonardo vom Pöstler Silvio Conti geschieden und ist mit dem zweijährigen Leonardo nach Berlin gezogen, wo dieser Kindheit, Studium und Karriere verbrachte. Leonardo Conti ist deshalb höchstens formal halb-schweizerisch. Wo/wann hat er sich explizit als Schweizer bekannt?

    Darfur wurde oben noch «diskutiert». Auch hierzu stammen die Informationen wieder einmal vorwiegend aus TV und sogar Hollywood-Filmen. Wenn es um die Aufspaltung eines der wichtigsten Oel-Lieferanten Chinas geht, wenn Schauspieler und Mitglied des US Council on Foreign Relations George Clooney zum Maskottchen einer US Medien-Kampagne wird, wenn am Ende US-Soldaten im Südsudan stationiert werden, sollte man zumindest hellhörig werden. Kritische Darstellungen siehe hier und die referenzierten Bücher: http://blackagendareport.com/content/real-darfur-story-political-conflict-not-genocide, http://www.blackagendareport.com/content/west-wants-take-rest-sudan%E2%80%99s-oil.

    Man möge sich bitte an Nicholas Spykman erinnern, einem der wichtigsten US-Geopolitiker des letzten Jahrhunderts: Moral ist niemals Ziel, sehr wohl aber Mittel der Machtpolitik.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 4.05.2015 um 21:11 Uhr
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    @Roelli. Contis Bedeutung war kleiner, als ich ursprünglich annahm, er wurde nämlich von der SS spätestens 1943 weitgehend entmachtet. Die mir zugänglichen Quellen haben mit den Quellen der deutschen Paracelsus-Gesellschaft zu tun, auch damit, dass er natürlich «grossdeutsch» dachte, aus schweizerischer Sicht keine gemütliche Angelegenheit. Selber habe ich eine geplante Conti-Biographie für länger verschoben, wahrscheinlich reicht die Lebenszeit nicht mehr dafür. Ich rate Ihnen ab, sich nur über Internetquellen über diese Geschichte schlau zu machen. Für den Aufstieg der Brüder Conti, Silvio nicht vergessen, ist ihre Rolle beim Tod von Horst Wessel nicht zu vernachlässigen, wobei hier die Quellenlage wie bei vielem anderen nicht eindeutig ist. Die Contis, überintegrierte Deutsche schweizerischer Herkunft, waren früh fanatische Nationalsozialisten. Leonardo und Nanna gehörten zum antikatholischen Flügel der Partei, u.a. auch wegen ihrer Einstellung zu Abtreibung und Euthanasie, was sie im nationalsozialistischen Sinn aktiv förderten.

  • am 4.05.2015 um 21:34 Uhr
    Permalink

    @P. Meier: Ich würde Ihnen sogar raten, sich nicht nur nicht «nur» über Internetquellen schlau zu machen, sondern überhaupt nicht. Das Internet als Technologie kann höchstens bei der Suche nach eigentlichen Quellen hilfreich sein, d.h. insb. Archivmaterial oder historische Publikationen. Einzige Ausnahme sind digitalisierte Orignalpublikationen, inkl. historisches Filmmaterial.

    Nochmals die Frage an Sie: Wo/wann hat sich Conti explizit als Schweizer bekannt? Ich schliesse dies nicht apriori aus, aber die Quelle würde mich interessieren. Ob sich jemand, der im Alter von zwei Jahren und mit deutscher Mutter nach Deutschland kommt und dort sofort die deutsche Staatsbürgerschaft erhält, wirklich noch «(über-)integrieren» muss?

    Contis Bedeutung ist übrigens schon lange vor 1943 zurückgegangen, insb. wg. der starken Stellung die Karl Brandt im dt. Gesundheitswesen aufbaute, der nun mal einiges näher an Hitler war. Das erkennen Sie schon bei der Vorbereitung der Euthanasie, wenn Sie sich damit eingehend beschäftigen. Freilich mindert all dies seine Bedeutung insgesamt keineswegs, denn gerade im Krieg hat noch mancher rapide an Bedeutung verloren, ausser vielleicht Goebbels und Himmler.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 5.05.2015 um 00:14 Uhr
    Permalink

    Wünschbar wäre bei Infosperber wieder mal ein richtig guter Artikel über Afrika, wie vor bereits längerer Zeit über Madagaskar. Und bei Kommentaren nicht unter das Niveau von Jean Ziegler und Al Imfeld gehen, selbst wenn diesen schon etwas reiferen Jugendlichen die letzte Objektivität abgeht. Aber sie haben immer etwas zu sagen, das den Hauptkriegsschauplatz beschlägt. Wenn sie verstummen, würde man es sehr bedauern.

  • am 5.05.2015 um 19:32 Uhr
    Permalink

    Lieber Herr Pirmin Meier, können Sie mir bitte den Eintrag von Karl Jäger senden? Es geht auch auf shraga.elam (@) gmail.com.
    Selbstverständlich ist Paul Grüninger einer Beweis für einen anderen bösen Schweizer. Hingegen gab es einige, die damals ganz tolle Hilfe uneigenützig leisteten. Es geht z.B. um den fast unbekannten Dr. Werner Stocker, der von der eigenen Partei (SP) in eine praktische Vergessenheit gedrängt wird.
    http://shraga-elam.blogspot.ch/2011/09/die-gruninger-religion.html
    Es gab auch sehr wiedersprüchliche Figuren wie Sally Mayer.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 6.05.2015 um 08:37 Uhr
    Permalink

    @Werner.T.Meyer. Verbindlichen Dank. Auch diejenigen Mitbürger, die als gut informiert gelten, Publizisten usw., sind tatsächlich über Afrika in der Regel nicht so im Bild, wie es angesichts der derzeitigen Situation sein müsste.
    @Elam. Ich werde mich wieder bei Ihnen melden, wenn ich nächstes Mal das Schaffhauser Stadtarchiv aufsuche. Man wird übrigens bei Forschungen nicht selten behindert. Selbst Recherchen zum Jahre 1920 erfordern zum Teil die Erlaubnis von nachgeborenen Verwandten, unglaublich. Und doch noch etwas: Ich kann Ihnen Ihre Einschätzung Grüningers nicht wegnehmen, finde indes, was Sie über Sally Mayer sagen und Werner Stocker, eher interessanter. Aber ich halte mich an den Grundsatz: Es gibt in der Geschichte nicht böse und gute Schweizer, sondern praktisch bei jeder Figur Licht und Schatten.

  • am 8.05.2015 um 08:40 Uhr
    Permalink

    Wer sich für andere vergessene Genozide in letzter Zeit interessiert, wird fündig bei unserer CARLA:
    "Madame Prosecutor: Confrontations with Humanity’s Worst Criminals and the Culture of Impunity Oct 11, 2011 | Kindle eBook by Carla Del Ponte and Chuck Sudetic"
    Sie plaudert da sehr ungeniert aus, gegen wen man sie hat ermitteln lassen und gegen wen nicht. Und wo es so heikel wurde, dass man sie deswegen abgesetzt hat. (@Pirmin Meier: Ja, Afrika)

    MfG
    Werner T. Meyer

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 8.05.2015 um 09:40 Uhr
    Permalink

    Danke, Werner Meyer, dass Del Ponte zum Beispiel betr. Würenlingen, 21. Februar 1970, nicht aktiv war, habe ich vor 6 Jahren aus Anlass einer öffentlichen Ansprache vor der Schweizer Flab mal kritisiert, dabei müsste man gerade hier die Hintergründe des Ermittelns und Nichtermittelns gemäss Ihrem Tipp noch besser kennen. Ehrlich gesagt müsste dem Bekanntheitsgrad von Auschwitz, für dessen ewiges Gedenken auch Burkhalter eine Million investiert hat bei seinem Besuch, relativ am wenigsten noch nachgeholfen werden im Vergleich zu dem, worüber, wie Sie berichten, nicht mal ermittelt werden darf.

  • am 9.05.2015 um 16:19 Uhr
    Permalink

    Dass Menschen, die im Auftrag einer höheren Autorität zu handeln glauben, zu allem fähig sein können, erlebte ich als Kind in Nazi-Deutschland. Aus dieser Erfahrung kam ich zur Einsicht in die Macht der NSDAP. Sie war die einzige im damaligen Deutschland. Ohne ihren Einfluss zu berücksichtigen, ist die blinde Gefolgschaft des «Führers» nicht zu verstehen. Mit dem Kriegsende verschwand diese totalitäre Organisation, aber es kommen immer wieder neue nach. Nicht nur in Deutschland.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 9.05.2015 um 18:58 Uhr
    Permalink

    Die NSDAP war nicht die einzige Macht in Nazideutschland. Es gab zum Beispiel noch die katholische Kirche, die sich zwar in vieler Hinsicht anpasste, aber absolut eine eigentständige Macht blieb, sie brachte es sogar so weit, dass Euthanasieprogramme und dergleichen abgebrochen werden mussten. Wegen ihrer Macht wirft man ihr bekanntlich auch vor, zu wenig für die Juden getan zu haben, aber das entsprach nun mal nicht ihren Prioritäten. Die Kirche wusste immer, dass sie mit Sicherheit den Nationalsozialismus überleben wird und hat sich darauf eingestellt. Im übrigen gab es durchaus einzelne Nischen, in die man sich zurückziehen konnte. Eine solche war zum Beispiel der bürgerliche Insel-Verlag. Klar ging es für keine Richtung ohne Konzession an den damaligen Totalitarismus. Die Nationalsozialisten haben sich aber jederzeit klar überschätzt. Hitler war ganz grundsätzlich unfähig, etwas Bleibendes zu schaffen, weil allzu sehr auf seine Person als Führer bezogen und unfähig, Institutionen zu installieren. In Sachen Totalitarismus war z.B. Mao klar fähiger und konsequenter, es gab in seinem System auch weniger Nischen und er war eher in der Lage, etwas Bleibendes zu schaffen. Eine vergleichbare Radikalität wie die chinesische Kulturrevolution hat der Nationalsozialismus nie hingekriegt.

  • am 9.05.2015 um 19:52 Uhr
    Permalink

    Guten Abend Pirmin Meier,
    na, da habe ich also Glück gehabt, dass mich der Storch in Nazideutschland und nicht in Mao-China abgesetzt hat. So bin ich der Hitlerjugend noch entkommen. Dieses Glück der späten Geburt wäre einem Siebenjährigen unter dem fähigeren und konsequenteren Mao mit den dortigen Jugendorganisationen wohl nicht vergönnt gewesen. Aber eigentlich wollte ich mich nicht beim Ranking totalitärer Systeme aufhalten. Mir genügt es, Propaganda und Kontrolle der NSDAP real kennengelernt zu haben. Dagegen hat damals weder die katholische Kirche noch der Insel-Verlag geholfen. Gegen Demagogie ist schwer anzukommen. Umso nachdenklicher werde ich, wenn ich den Rückgang der politischen Bildung (Medienkritik) an den Schulen im Laufe der letzten 30-40 Jahre betrachte. Ich zähle darauf, dass die junge Generation eigene Wege findet, der politischen Verführung zu entgehen. Und übrigens: Was hat es denn gebracht, dass die Kirche den Nationalsozialismus überlebt hat, solange sie abweichende Meinungen einfach ausgrenzt?

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 9.05.2015 um 20:22 Uhr
    Permalink

    Ich habe nicht gesagt, Mao-China sei «schlimmer» gewesen als der NS, bloss ideologisch noch konsequenter, es ging auch nicht um Einschätzung der kriminellen Energie zur Zeit des NS. Die katholische Kirche hat übrigens heute in den meisten Ländern kaum mehr wirklichen Einfluss, es war auch noch nie so, dass sie das Sexualverhalten der Bevölkerung unter Kontrolle bekam usw., und in der kath. Kirche Schweiz gibt es fast nur noch abweichende Meinungen, Huonder ist totaler Aussenseiter. Zurück zu Deutschland: Es gab, ich habe darüber doktoriert, in den dreissiger Jahren noch z.B. eine katholisch-bürgerliche Literatur mit nichtnazistischer Haltung, aber natürlich konnten die den Krieg nicht verhindern, aber immerhin z.T. erstaunlich mutige Bücher schreiben, etwa wie Reinhold Schneider eine kritische literarische Debatte führen über die Ideologie überlegener Völker und Rassen. Will Erich Peuckert schliesslich druckte in Deutschland 1943 einen brillanten historischen Essay über den Tyrannenmord, wobei jedoch damals etwa «Wilhelm Tell» für das Theater längst verboten war. Ernst Jünger formulierte für jene Zeit mit Recht: «Zensur verfeinert den Stil.» Zum Rückgang der politischen Bildung kann ich Ihnen leider nur recht geben. Verwechseln Sie nun aber meine Ausführungen nicht mit einer Verharmlosung des NS. Sebastian Haffner hat in seinen «Anmerkungen zu Hitler» die Kurzatmigkeit jenes Systems glänzend analysiert, auch wenn das für damalige Opfer kurzfristig ein schwacher Trost war.

  • am 9.05.2015 um 20:54 Uhr
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    Religionen und Nazis: Die deutsche NSDAP hatte in PROTESTANTISCHEN Kleinstädten den grössten Stimmenanteil. Zu ihrer Verwunderung lief ihnen dann die PROTESTANTISCHE Kirche auch als Organisation nach. Das war aber spezifisch für Deutschland.

    Werner T. Meyer

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 9.05.2015 um 22:42 Uhr
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    @Meyer. Immerhin gab es bei den Evangelischen noch die Barmer Erklärung, zu welcher der dann später in die Schweiz vertriebene Karl Barth wesentlich beitrug. Was die noch vorhandene Macht der katholischen Kirche betraf, so kann man auf Kardinal Faulhaber verweisen. Dieser liess sich, bei Konzessionen an den NS, doch sehr vieles nicht bieten, z.B. was den Schutz des Lebens betraf und die NS-Politik betr. Behinderte usw., natürlich auch das Abhängen von Kreuzen und dergleichen wurde bekämpft, zum Zeichen, dass man auch noch «wer» sei usw. Faulhaber hatte grossen Einfluss auf die relativ antirassistische Enzyklika «Mit brennender Sorge» von Papst Pius XI.

  • am 10.05.2015 um 09:17 Uhr
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    @Pirmin Meier: Ja es gab heroische Widerständler, davon hat man uns in Sonntagsschule und Gymnasium ja auch erzählt, danke für ihre Erwähnung. Von dem eifrigen Mitmachen der ganzen Institution und der Schafe hinter den Bischöfen weniger.

    Apropos MAO: die tödlichste Phase, der grosse Sprung nach vorn (36 Millionen Todesopfer + 40 Millionen weniger Geburten) war NICHT ideologisch untermauert. Das Versagen der Partei war eine völlige Kritiklosigkeit gegenüber ihrer Fehlsteuerung der Wirtschaft. Selbst der Genozidstatistiker Rudolph Rummel (sonst ein Kommunistenfresser aus dem kalten Krieg) diagnostiziert hier keinen Vorsatz.

    Werner T. Meyer

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 10.05.2015 um 10:11 Uhr
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    Der «grosse Sprung nach vorn» erinnert an die Kulaken-Hungerkatastrophe zur Zeit Stalins, welch letztere zwar vom System eindeutig verschuldet war. Selber halte ich aber nicht viel vom gegenseitigen Aufrechnen der Opfer des Kommunismus und des Nationalsozialismus, bin auch Schwarzbüchern gegenüber zurückhaltend, weil es letztlich auf die recherchierten Einzelschicksale ankommt. Mit zu diesen höchst fragwürdigen Aufrechnungen, wo man es oftmals mit den Millionen nicht so genau nimmt, gehört die Unterscheidung zwischen Opfervölkern und Tätervölkern. So verglich auch etwa Grass die 6 Millionen deutschen Kanonenfuttersoldaten mit den 6 Millionen Juden, und Papst Pius XII. wiederum bezeichnete die Vertreibungen aus dem Osten als das grösste Verbrechen des 2. Weltkrieges usw. Diese auch ideologisch mitbedingte Aufrechnungsmentalität zeugt potentiell neue Kriege, worauf, in viel bescheidenerem Zusammenhang, im 15. Jahrhundert schon der Eremit Klaus von Flüe aufmerksam gemacht hat. Er brachte es 1947 immerhin zum «Friedensheiligen».

    PS. Putins «Protzparade» (Schweiz am Sonntag) bewirkt bei Denkenden hoffentlich mittelfristig, dass triumphalistische Siegesfeiern eines Tages der Vergangenheit angehören werden.

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