Ungarische_Garde

Die «Ungarische Garde» ist paramilitärisch organisiert und offen rassistisch. © Tobi85/wikimedia commons

Garden-Frühling im ungarischen Herbst

Jürg Müller-Muralt /  Eine Roma-Garde soll Minderheiten vor Neonazis schützen: Ungarns Probleme mit dem staatlichen Gewaltmonopol.

Wenn selbsternannte Bürgerwehren und Garden auftauchen, wird es heikel. Private Gruppen massen sich an, ein tatsächliches oder vermeintliches Versagen des staatlichen Gewaltmonopols durch eigenes Handeln zu kompensieren. Doch selbsternannte Bürgerwehren sind nie neutrale Ordnungskräfte, sie kochen meist ein politisches Süppchen: Sie stellen aufgrund einzelner Ereignisse ihnen nicht genehme Bevölkerungsgruppen als Gefahr dar, die nur mit Selbstjustiz wirksam in Schach gehalten werden könne. Und sie provozieren Gegenreaktionen.

Gegenseitiges Aufschaukeln

Ungarn bietet derzeit Anschauungsunterricht, wie sich die Lage aufschaukeln und zuspitzen kann, wenn der Staat nicht rechtzeitig und konsequent gegen Bürgerwehren und paramilitärische Gruppen vorgeht. Mittlerweile ist es nicht mehr ausgeschlossen, dass rechtsradikale Organisationen und Roma-Gardisten aufeinander losgehen. Im südungarischen Pecs ist nämlich Anfang September eine Roma-Selbstverteidigungstruppe ins Leben gerufen worden. Sie nennt sich «Roma-Garde», hat gemäss eigenen Angaben bereits 400 Männer hinter sich und will landesweit bis zu 8000 Mitglieder rekrutieren. Die Garde will nicht nur die eigenen Leute schützen, sondern auch Juden und andere Minderheiten, die unter der ihnen zunehmend feindlich gesinnten Stimmung zu leiden haben.

Mittlerweile alles möglich

Bereits haben sich verschiedene Roma-Organisationen der Initiative angeschlossen. Ob diese Roma-Garde allerdings mehr ist als eine grossspurige Ankündigung, ist unklar. Das ist in diesem Fall aber nicht der ausschlaggebende Punkt. Der ausschlaggebende und Besorgnis erregende Punkt ist das politische Klima, das derartige Entwicklungen überhaupt möglich macht. Ferenc Bago, der selbsternannte Kommandant der Roma-Garde, scheint eine umstrittene Figur zu sein. «Einige Kommentatoren halten ihn eher für einen Selbstdarsteller, andere für einen gut vernetzten Macher», schreibt die deutschsprachige ungarische Zeitung «Pester Lloyd». Für die linksliberale «Népszabadsag» klingt die «ganze Sache ziemlich verrückt». Und der Kommentator einer Regionalzeitung hofft, das sei alles nur ein «Bluff»; doch in Ungarn sei mittlerweile alles möglich.

Antwort auf Hetze

Die Gründung der Garde ist die Antwort auf die jüngste Hetze gegen die Minderheit der Roma. Äusserer Anlass dazu wiederum war die brutale Vergewaltigung und Ermordung einer jungen Frau. Als mutmasslicher Täter wurde ein 26-jähriger Rom verhaftet. Nun wird nach bekanntem Muster die ganze Volksgruppe der Roma kollektiv verdächtigt. Da nützt es nichts, wenn die Eltern der Ermordeten öffentlich dazu aufrufen, den Namen ihrer Tochter «nicht zum Vorwand für Hetze und Hass zu missbrauchen».

Neu sind Hetze und Terror gegen die Roma nicht, weder in Ungarn noch in anderen ostmitteleuropäischen Staaten (siehe Link unten); aber in Ungarn ist das Problem besonders ausgeprägt. Speziell hervorgetan hat sich die von der rechtsextremen Partei Jobbik 2007 gegründete «Ungarische Garde». Diese wurde zwar 2009 gerichtlich verboten, ist aber unter der Bezeichnung «Neue Ungarische Garde» auferstanden. Sie ist paramilitärisch organisiert, offen rassistisch, zieht durch Roma-Siedlungen und verbreitet dort Angst und Schrecken.

Verbotene Organisation feiert

Ursache der gegenseitigen Aufrüstung mit Bürgerwehren ist in hohem Mass ein Versagen des ungarischen Staates. Nicht, weil ihm die Mittel zur Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols fehlten, sondern weil die rechtsnationale Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orban eine doppeldeutige Politik betreibt: Bei Aufmärschen und Drohungen gegen Roma schreitet die Polizei häufig sehr zögerlich ein, und Ende August durfte die Garde mitten in Budapest mit behördlicher Erlaubnis ihren fünften Gründungstag feiern – notabene den Geburtstag einer eigentlich verbotenen Organisation.

Zweierlei Ellen

Dass die ungarischen Behörden mit zweierlei Ellen messen, zeigt auch die rasche Reaktion nach der Gründung der Roma-Garde: Der Initiant Ferenc Bago ist von der Polizei unter Mithilfe einer Antiterror-Einheit verhaftet worden. Die Quellen widersprechen sich, ob er bereits wieder frei und untergetaucht oder immer noch inhaftiert sei. «Pester Lloyd» stellt nur lakonisch fest: «Die Schnelligkeit der polizeilichen Reaktion ist erstaunlich, und man hätte sich diese auch gegenüber den Führern der Vielzahl von Neonazi-Gruppen gewünscht, die nachweislich seit Jahren die öffentliche Ordnung stören und Volksverhetzung bis hin zur Amtsanmassung und Nötigung vollführen.»


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