Die latente Aggressivität gegen ärmere Menschen
Was ist Armut? Wann ist man arm? Es liegt in der Natur der Sache, dass dies nie absolute und objektive, sondern immer relative Begriffe sind. Trotzdem regt sich René Scheu, Herausgeber des liberalen Magazins «Schweizer Monat», in einer Kolumne in der NZZ am Sonntag vom 22.09.2013 darüber auf, dass «bei uns ein relativer Armutsbegriff» gelte: «Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient, ist armutsgefährdet. So lässt sich beliebig Armut produzieren, und dieselbe Sozialindustrie, die über die Deutungshoheit in sozialen Fragen verfügt, lebt erfolgreich von deren politischer Bewirtschaftung.»
«Entfesselte Sozialvergleiche»
Zweierlei ist dazu zu sagen. Erstens ist das nicht nur «bei uns» so. Auch die EU-Statistiker, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kennen ähnliche Armutsdefinitionen. Und zweitens – und das ist alarmierender – steckt hinter dieser Aussage eine latente Aggressivität gegenüber jenen Menschen und Institutionen, die schützen, helfen und begleiten. Dazu passt, dass Scheu von einer «Kultur des entfesselten Sozialvergleichs» schwafelt und von «wohlmeinenden Sozialingenieuren und deren Gleichmacherpostulaten».
Korrumpierte Sprache
René Scheu hat diese abwertende Rhetorik gegenüber Sozialinstitutionen und ihren Klientinnen und Klienten nicht erfunden. Aber es sind die rechtslastigen Intellektuellen seines Schlags, welche die diffamierende Diktion salonfähig machen. Und es ist auffallend, dass das zeitlich einhergeht mit der tatsächlich um sich greifenden Krise, mit der tatsächlich sich vertiefenden sozialen Kluft. Das französische Soziologenpaar Michel und Monique Pinçon-Charlot hat jüngst in einem Interview mit der französischen Zeitung «Libération» auf diesen Umstand aufmerksam gemacht (Link siehe unten). Die beiden beobachten eine wachsende «Korruption der Sprache»: Ärmere würden in Medien, Reden, durch PR-Agenturen etc. zunehmend als «innere Feinde» behandelt, als Betrüger, Schmarotzer und als viel zu grosser Kostenfaktor.
Die «Hängematte»
Noch schlimmer ist es in den USA. Martin Kilian, USA-Korrespondent des «Tages-Anzeigers», spricht in einem erhellenden Artikel vom 16.07.2013 von einem veritablen «Krieg gegen die Armen» (Link siehe unten). In Washington laufe «ein gnadenloser Feldzug gegen die weniger Glücklichen der Gesellschaft.» Der perfide Vorwurf: Arme würden sich in der «Hängematte» ein schönes Leben machen. Dabei ist es gerade umgekehrt, wie eine Anfang September 2013 publizierte Studie des Ökonomen Emmanuel Saez von der Berkeley-Universität in Kalifornien zeigt (Link siehe unten): Die Reichen kamen komfortabel aus der Krise. Das Einkommen des reichsten einen Prozents vermehrte sich zwischen 2009 und 2012 um über 31 Prozent, das der übrigen 99 Prozent nur um 0,4 Prozent.
«Das Wohl der Schwachen»
Doch auch hierzulande geistert das Bild des verhätschelten Sozialhilfebezügers durch die Öffentlichkeit. Kürzlich wieder, als das bernische Kantonsparlament die Sozialhilfe massiv kürzte. In einem Interview mit der «Berner Zeitung» vom 10. Mai 2013 erklärte der Initiant des Streichkonzerts, der bernische SVP-Grossrat Ueli Studer, die Sozialhilfe sei zu grosszügig bemessen und man «verdiene» damit mehr, als wenn man darauf verzichte und einer Arbeit nachgehe. Die Ausgrenzungsrhetorik gipfelt dann im Satz: «Die Sozialhilfe darf nicht ein Niveau erreichen, auf dem es einem wohl werden kann.» Eine verräterische Wortwahl: Die Armen sollen unten gehalten werden, die Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung soll nicht mehr gelten, wo es heisst, «dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.» Wohlverstanden: am Wohl!
Zynische Begleitmusik
Die soziale Ausgrenzung und die sie begleitende subtile sprachliche Diffamierung haben System. Es ist die zynische Begleitmusik der neoliberalen Lehre, gemäss der jede und jeder grundsätzlich für sich und seine Lage selbst verantwortlich ist. Mit diesem ideologischen Rüstzeug wird Stimmung gemacht gegen jene, die in die Armutsfalle geraten. Das verheisst für die Zukunft nichts Gutes. Denn Armut wird sich in den kommenden Jahren in Europa massiv ausbreiten, warnt die renommierte britische Hilfsorganisation Oxfam.
Die Warnung von Oxfam
Der Bericht unter dem Titel «Ein warnendes Beispiel: Die wahren Kosten von Sparpolitik und Ungleichheit in Europa» (Link siehe unten) rechnet vor, dass bis zum Jahr 2025 weitere 15 bis 25 Millionen Europäerinnen und Europäer in die Armutsfalle gedrängt werden, in der bereits 120 Millionen Menschen stecken – dies, wenn die massive Sparpolitik fortgesetzt werde. «Die Europäische Union steckt in einer bitteren Krise aus Arbeitslosigkeit und Ungleichheit, die zu wirtschaftlicher Instabilität und sozialer Verzweiflung führt.»
Die harte Sparpolitik der letzten fünf Jahre habe zu einer massiven Umverteilung des Reichtums geführt. Von der Sparpolitik nach Ausbruch der Finanzkrise 2008, die Millionen in die Armut getrieben habe, profitierten nur die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung. «Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Spanien und Grossbritannien, Länder, die die aggressivsten Sparmassnahmen umgesetzt haben, werden bald die Länder mit der grössten Ungleichheit weltweit sein», heisst es im Bericht. Oxfam fordert deshalb unter anderem ein gerechtes Steuersystem: Ausbau der progressiven Steuern, Reichtums- und Finanztransaktionssteuern; zudem sollten Steuerhinterziehung und Steuerflucht ernsthaft bekämpft und zu diesem Zweck Transparenz hergestellt und der automatische Informationsaustausch eingeführt werden.
Auch die ILO ist besorgt
Bereits im Juni 2013 hat die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in einem Bericht gewarnt, die steigende Arbeitslosigkeit erhöhe das Risiko sozialer Unruhen. Auch die ILO ortet die Schuld in der dramatischen Sparpolitik. Die grösste Gefahr sieht die Uno-Sonderorganisation in der Europäischen Union. Bei der Präsentation des Weltarbeitsmarktberichts 2013 sagte ILO-Generaldirektor Guy Ryder: «Wir brauchen einen auf Jobs und produktive Investitionen fokussierten globalen Aufschwung sowie besseren sozialen Schutz für die ärmsten und verwundbarsten Gruppen». «Und wir müssen gegen die soziale Ungleichheit vorgehen, die in vielen Teilen der Welt grösser wird.»
Das sind die wahren Probleme. Und nicht jene von rechts als «Sozialindustrie» diffamierten sozialen Sicherungssysteme und Institutionen. Sind diese erst einmal am Boden, dann haben wir nicht nur die Leitidee einer auf sozialen Ausgleich bedachten Gesellschaft aufgegeben, sondern setzen gleich auch noch die Stabilität ebendieser Gesellschaft aufs Spiel.
—
Siehe auch:
«Zwei Meldungen: von schlecht zu schlechter. Oder?» vom 12.10.2013
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Geld geht zu Geld. Es ist eine permanente Aufgabe, dem entgegenzuwirken. Es ist ein Skandal, dass immer ungenierter geäussert wird, es sei genug getan und man müsse die armen sogar angreifen.
Gratuliere! Sehr guter Artikel!!