Kommentar
Die Ukraine braucht Ost und West
Europa oder Russland. Diese falsche Perspektive hat die Ukraine in eine Krise gestürzt.
Der Name sagt alles: «U-kraine» bedeutet «an der Grenze». Grenze zur Steppe, der Trennlinie zwischen den sesshaften und nomadischen Zivilisationen, die für die ältere Geschichte Osteuropas von grundlegender Bedeutung war. Durch die Ukraine verläuft auch die sogenannte «Tee – und Kaffee-Grenze», die Grenze zwischen dem byzantinisch – orthodoxen östlichen Kulturraum und dem lateinisch – abendländisch geprägten Kulturraum.
Zwischen Ost und West
Über lange Perioden ihrer Geschichte war die Ukraine Bestandteil fremder Staaten: Westliche Territorien der Ukraine gehörten zu Polen-Litauen, später zur Donau-Monarchie, dann zur polnischen Republik. Die Ostukraine wurde grossteils erst im 18. Jahrhundert besiedelt. Nach der Industrialisierung wurden dort auch russische Bauern und Arbeiter angesiedelt. Die Ostukraine hat einen ganz anderen historischen Hintergrund als die Westukraine.
Seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 hat sich aber keine Partei und keine Regierung darum bemüht, die jeweils andere Seite einzubeziehen, zwischen den verschiedenen politischen Kulturen im Osten und Westen der Ukraine Brücken zu schlagen und so eine staatliche Identität aufzubauen.
Tief gespalten
Dieser Vorwurf gilt sowohl für das inzwischen abgesetzte Regime Janukovitsch als auch für die vorangegangene orangene Regierung unter Präsident Juschtschenko. Sobald sie die Macht hatten, haben sie nur noch versucht, den eigenen Einfluss zu vergrössern. Die Ukraine ist tief gespalten: Die wirtschaftlich schwachen Regionen im Westen sind die Hochburgen der Nationalisten. Die grossen Unternehmen der Ukraine, etwa mit Stahlwerken, Schiff- und Turbinenbau aber liegen im Osten, ihr Markt ist Russland.
Russisch ist die vorherrschende Sprache im Alltag selbst der ukrainischen Hauptstadt. Millionen Russen leben im Osten des Landes und auf der Krim. Die Schwarzmeer-Halbinsel wurde erst 1954 der Ukraine zugeschlagen, gegen den Willen der Bevölkerung.
Vordergründig geht es im Kampf um die Ukraine um ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union und um die Zukunft eines korrupten Herrschaftssystems. Im Grenzland Ukraine stehen aber auch geopolitische Interessen auf dem Spiel, die das nach Russland zweitgrösste Land Europas in eine verhängnisvolle Zerreissprobe gestürzt haben.
Russland schachmatt setzen
Der früherer US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski hat diesen Raum mit einem Schachbrett verglichen. Zu den Schachspielern an diesem Brett gehören die USA, Russland, die Europäische Union und die Nato. Der Geopolitiker Brzezinski würde Russland gern schachmatt setzen. In seinem Buch «The Grand Chessboard» (Titel der deutschen Ausgabe: «Die einzige Weltmacht») behauptet er, in der Ukraine würden die Würfel fallen. Brzezinskis These: Ohne die Ukraine ist Russland kein Imperium mehr. Mit der Ukraine, die von Moskau zuerst gekauft und dann unterworfen werde, werde Russland automatisch wieder ein Imperium. Um das Wiederauferstehen der Sowjetunion zu verhindern, so Brzezinski, müsse die Ukraine zum Vorposten des Westens aufgebaut werden. Nicht nur die Ukraine sondern auch die übrigen postsowjetischen Staaten müssten politisch und wirtschaftlich stabilisiert werden, nur so könne der Westen «Russland zu einem historisch neuen Selbstverständnis nötigen.»
Im Kalten Krieg stecken geblieben
Brzezinskis Denken ist im Kalten Krieg stecken gebliebenen, beeinflusst aber bis heute die US – Aussenpolitik. US-Senator John McCain, ein ehemaliger Marineflieger im Vietnamkrieg, rief auf der Tribüne des Unabhängigkeitsplatzes in Kiew im Dezember 2013: »Ukrainisches Volk ! Das ist euer Moment! Die Freie Welt ist mit euch! Amerika ist mit euch!» Neben John McCain auf der Bühne stand Oleh Tyahnybok, der Führer der rechtsextremen Partei «Swoboda», die aus ihrer offen antisemitischen Haltung kein Hehl macht .
Auch der viel zitierte Ausspruch der US- Vizeaussenministerin Victoria Nuland «Fuck the EU» ist mehr als ein peinlicher Ausrutscher. Hier äussert sich die Frustration der USA, die Kompromissversuche zwischen Europa und Russland zu torpedieren versuchen, weil sie befürchten, Europa wolle sie vom Kontinent verdrängen.
Keine Schachfigur
Die Ukraine lässt sich aber nicht wie eine Schachfigur herumschieben. Das mussten in den vergangenen Monaten sowohl Brüssel wie auch Moskau zur Kenntnis nehmen. Laut Umfragen hält sich die Unterstützung des Euromaidans und seiner Gegner in etwa die Waage (40 bis 50 Prozent sind dafür und etwa 40 Prozent dagegen). Wir wissen allerdings wenig darüber, weil die westlichen Medien mit jenen auf der anderen Seite des Grabens, der Ost-Ukraine, kaum sprechen. Dort hätten sie erfahren können, was der Osteuropahistoriker Gerhard Simon beobachtet: «Im Osten und Süden des Landes halten die Menschen nichts von der Proeuropabewegung. Gleichzeitig sind die Ostukrainer aber auch nicht einfach für eine Gegenbewegung (…)In Westeuropa wird das oft falsch gesehen. Dort heisst es: Die einen wollen nach Osten und die anderen nach Westen. Es ist nicht richtig, den Ostukrainern zu unterstellen, sie wollen sich Moskau anschliessen.» (Tages Anzeiger 21. Februar 2014).
Übersehen wird auch, dass in der ganzen Ukraine eine junge Generation heranwächst, die sich nicht so leicht in das Paradigma pro-russisch versus pro–EU einordnen lässt. Ebenso lehnt eine Bevölkerungsmehrheit in beiden Landesteilen eine Spaltung des Landes kategorisch ab.
Grosse soziale Kluft
Nur wenige westliche Korrespondenten berichteten, dass «die paramilitärisch organisierten Gruppen des nationalistischen und rechtsradikalen Spektrums die Proteste stark prägen» (WOZ, 20. Februar 2014). Kaum erklärt wurde, warum extremistische Kräfte wie «Swoboda», die nichts mit Europa und Rechtsstaat gemein haben, die Kontrolle des Maidan übernehmen konnten. Einer der Gründe ist die wachsende Distanz zwischen Volk und dem mit den Oligarchen eng vernetzten Staatsapparat. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hat realisiert, dass sich ihre soziale Lage seit der Unabhängigkeit des Landes nicht verbessert hat, während die korrupte Oberschicht ihre Familien und Reichtümer schon lange in Ländern wie Österreich und der Schweiz in Sicherheit gebracht haben.
Gesellschaftlicher Wandel trotz erstarrtem Regime
Die dramatischen Ereignisse der letzten Wochen haben uns aufgeweckt und daran erinnert, dass nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums dem westlichen Europa ein neuer Nachbar entstanden ist. Das neue Land «am Rande» haben wir lange kaum zur Kenntnis genommen und offensichtlich unterschätzt. So mussten für die Berichterstattung über die schwerste Krise seit der Unabhängigkeit Journalisten eingeflogen werden. Im schwierigen Gelände des «Grenzlandes» mussten sie sich zuerst zurechtfinden.
Viele von ihnen haben mit Erstaunen festgestellt, dass die Ukraine trotz einer zutiefst korrupten Oberschicht im postsowjetischen Raum ein erstaunlich progressives Land ist, weil sich hier unter einem erstarrten Regime eine Zivilgesellschaft entwickelt hat. Trotz des Scheiterns der orangen Koalition vor zehn Jahren hat diese Phase der ukrainischen Politik das Entstehen einer kritischen Öffentlichkeit gefördert. Dieser gesellschaftliche Wandel ist trotz allem ein hoffnungsvolles Zeichen für die Zukunft der Ukraine.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Roman Berger hat wohl in Vielem recht. Seine Hoffnung, dass es nicht zur Spaltung der Ukraine kommt, könnte aber ein frommer Wunsch bleiben. Auch den Herren im Kreml dürften die Worte von Hardlinern wie Brzezinski nicht entgangen sein. Brzezinski ist eine Altlast des Kalten Krieges, wie eben Putin auch. Die beiden arbeiten sich sozusagen in die Hände. Am längeren Hebelarm ist aber Putin. Das hat schon die russische Intervention in Georgien gezeigt. In wenigen Stunden wurde die von den USA bis auf die hochgerüstete Armee Sarkazwilis pulverisiert. US-Generäle waren in Tiflis, als Jets und Kampfhelikopter des russischen Innenministeriums über das dortige Regierungsgebäude donnerten. Als ersten Schritt dürfte Russland die Krim zurückholen. Was sogar völkerrechtlich nicht zu beanstanden wäre. Die große Mehrheit der Krim-Bewohner sind Russen, die eigentlich nie Ukrainer sein wollten. Die neuen Machthaber in Kiew werden das Ukrainische als einzige Staatssprache zulassen und vergeblich versuchen, die Mehrheitspartei im Osten zu verbieten. Als nächstes wird sich dann die Ostukraine unter wütenden Protesten des Westens für unabhängig erklären. Dabei dürfte kein einziger Schuss fallen.
Dass Putin vom Wiedererstehen der Sowjetunion träumt, pfeifen die Spatzen längst vom Dach. Stalin und Lenin sind heute wieder sehr populär in Russland. Der nächste Schritt in diesem Drama dürfte der Zerfall des Westukraine sein, was letztendlich in einer Sowjetrepublik Ukraine enden könnte.
Schade. Das was in der Ukraine geschieht, scheint die meisten nicht zu interessieren.
Wir werden darüber von den Medien auch einseitig informiert.
Hier eine Stimme aus dem Osten.
http://de.ria.ru/politics/20140226/267921914.html