Demokratie im Stress
Demokratischer Aufbruch in der arabischen Welt – und Niedergang der Demokratie in Europa? Die Wirklichkeit ist natürlich um einiges komplizierter und differenzierter. Aber als Tendenz ist die zugespitzte Aussage nicht vollkommen falsch. Vor allem Europa gerät auffallend deutlich ins Visier professioneller Demokratiebeobachter. Es lässt jedenfalls aufhorchen, wenn zwei renommierte Institutionen Warnungen aussprechen und ungarische Intellektuelle festhalten, dass «in Ungarn die freiheitliche Demokratie, wie man sie im Westen kennt, beendet» sei.
Ungarn als «trauriges Beispiel»
Ungarn ist derzeit das demokratiepolitische Sorgenkind Nummer eins der Europäischen Union. Unter dem Titel «Von der Demokratie in die Diktatur» wendet sich eine besorgte Gruppe einstiger Dissidenten unter dem Kommunismus mit einem offenen Neujahrsbrief an die Öffentlichkeit (publiziert in der deutschsprachigen ungarischen Tageszeitung «Pester Lloyd»). Die Unterzeichner der früheren Menschenrechts- und Demokratiebewegung – unter ihnen auch die Schriftsteller György Dalos und György Konrad – rufen in ihrem dramatischen Appell alle demokratischen Kräfte innerhalb und ausserhalb Ungarns dazu auf, «es nicht hinzunehmen, dass ein Mitgliedsland der Europäischen Union universelle Werte abschafft». Denn die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban versuche, «den Rechtsstaat zu zerstören, demokratische Kontrollorgane abzuschaffen und betreibt eine Politik der systematischen Ausschaltung autonomer Institutionen». Die Gewaltenteilung sei nur noch formell in Kraft.
Die Autoren des Appells sind pessimistisch: «Die diktatorische Macht in Ungarn hat bereits einen Punkt ohne Umkehr erreicht». Aus eigener Kraft finde das Land nicht mehr den Weg zurück zum Rechtsstaat. «Europa steht selbst an einem Scheideweg. Ungarn ist nur ein trauriges Beispiel, was passieren kann, wenn sich Krisen kumulieren und versucht wird, ökonomische und soziale Krisen durch autoritäre Haltung und eine Politik der nationalen Isolation zu lösen.»
Beunruhigende Befunde
Was die Autoren dieses Aufrufs in drastischen Worten ausdrücken, ist keine Panikmache. Auch professionelle Demokratiebeobachter kommen zu beunruhigenden Befunden: Ungarn ist zwar ein extremes Beispiel, aber es steht nicht völlig isoliert da. Die Unterstützung für demokratische Werte ist insbesondere in den neuen EU-Mitgliedstaaten teils dramatisch eingebrochen – aber eben nicht nur dort.
In ihrem «Transition Report 2011» ortet die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) in den ostmitteleuropäischen EU-Ländern zunehmend Sympathien für autoritäre politische Systeme. Die EBRD wurde 1991 gegründet und unterstützt die früheren Ostblockstaaten bei ihren Bemühungen, demokratische und marktwirtschaftlich orientierte Gesellschaften zu etablieren. In ihrem jüngsten Bericht spürt sie den Zusammenhängen zwischen Wirtschaftskrise und Vertrauen in die Demokratie nach. Befragt wurden rund 39 000 Personen.
Schwindende Sympathie für Demokratie
Der Hauptbefund: Rückläufig ist die Unterstützung für die Prinzipien von Demokratie und Marktwirtschaft «speziell ausgeprägt» in den neuen EU-Staaten. Interessanterweise betrifft dieser Trend die wirtschaftlich relativ weit fortgeschrittenen EU-Mitglieder Osteuropas, am stärksten die Slowakei, Slowenien und Ungarn. Den Grund für die Abkehr von demokratischen Prinzipien sehen die Forscher im Umstand, dass diese Länder in den vergangenen Jahren besonders stark von der Wirtschaftskrise betroffen sind.
Markant zugelegt dagegen hat das Ansehen von Demokratie und Marktwirtschaft – was nicht identisch ist mit den tatsächlichen politischen Verhältnissen vor allem in den ehemaligen Sowjetrepubliken und in wirtschaftlich wenig entwickelten Ländern des Westbalkans. Zwar sind die wirtschaftlichen Schwierigkeiten dort nicht kleiner, doch macht man in diesen Ländern vor allem die Korruption und die immer noch stark staatlich gelenkte Wirtschaft für die Krise verantwortlich. Der «Transition Report» nennt als gemeinsamen Grund für den Ansehensverlust der Demokratie in der einen und den Imagegewinn in der anderen Ländergruppe, dass sich die Menschen «von dem abwenden, was sie haben».
Demokratische Rezession
Nicht auf Umfragen, sondern auf einem ausgefeilten Kriterienkatalog basiert der «Democracy Index 2011», der Ende Dezember erschienen ist. Der Bericht stammt von der «Economist Intelligence Unit» des renommierten britischen Wirtschaftsmagazins «Economist» und nimmt die weltweiten Trends in Sachen Demokratie unter die Lupe. Die globale Diagnose: Nach den eindrücklichen Demokratisierungsschüben in den Siebzigerjahren und nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 sei in den letzten Jahren weltweit ein Niedergang der Demokratie zu registrieren, eine «demokratische Rezession». Als wichtigste demokratiegefährdende Trends für das Jahr 2011 nennen die Autoren den Vertrauensverlust in die politischen Institutionen sowie die zunehmende soziale Unrast.
Mangel an politischer Kultur
Ein besonderes Augenmerk richten die Forscher auf die «Erosion» der Demokratie in Europa – sowohl im Osten wie im Westen des Kontinents: «Die kurzfristigen Aussichten in Europa sind Besorgnis erregend.» In Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken sei ein markanter Trend hin zu autoritären Regierungen festzustellen. Aber auch in den ostmitteleuropäischen EU-Staaten seien die Demokratien äusserst fragil. Die Region sei ein Musterbeispiel für den Unterschied zwischen formaler und substanzieller Demokratie: Zwar verfügen alle diese Länder über den gleichen Standard an politischen Freiheiten und Institutionen wie die alten Demokratien Westeuropas, doch es fehlt an einer stabilen politischen Kultur. Das äussert sich nach Meinung der Experten vor allem in einer schlecht ausgebildeten politischen Partizipation, und in einem ausgeprägten Mangel an öffentlichem Vertrauen in die Institutionen.
Erosion von Souveränität
In Westeuropa machen den Demokratiebeobachtern vor allem die Auswirkungen der Schulden- und Eurokrise Sorgen: Der Hauptgrund für den Niedergang demokratischer Qualitäten seien «die Erosion von Souveränität und demokratischer Verantwortlichkeit». So wird in verschiedenen Ländern die Politik nicht mehr durch nationale Parlamente und gewählte Politiker bestimmt, sondern «durch Gläubiger, die Europäische Zentralbank, die Europäische Kommission und den Internationalen Währungsfonds.» Der «Index» verweist auf die Ablösung demokratisch gewählter Regierungschefs durch Technokraten in Griechenland und Italien. Zudem werde durch die massiven Sparmassnahmen der soziale Zusammenhalt geschwächt, und der Vertrauensverlust in die Institutionen schreite weiter voran.
Die Schweiz nicht ganz an der Spitze
Die Rangliste des «Democracy Index 2011» wird von Norwegen angeführt, das Schlusslicht der 167 bewerteten Staaten bildet – nicht völlig überraschend – Nordkorea. Was die nationale helvetische Seele etwas irritieren dürfte, ist die Platzierung der Schweiz: Sie befindet sich zwar unter den Top Ten, aber erst auf Rang 7, nach Norwegen, Island, Dänemark, Schweden, Neuseeland und Australien, und vor Kanada, Finnland und den Niederlanden. Gedrückt hat die Position der Schweiz vor allem die etwas tiefe Note in Sachen politische Partizipation. Ausgerechnet! So ist man versucht auszurufen. Das Land der Referendumsdemokratie mit dem ausgebauten Initiativrecht, der dezentralen, föderalistischen Machtverteilung und den starken kommunalen Mitbestimmungsrechten soll ein Problem mit politischer Partizipation haben?
Nun ist die Politologie keine exakte Wissenschaft, und dazu eine, die in ihren Fragestellungen in überdurchschnittlichem Masse von den Wertvorstellungen der Forschenden abhängig ist. Gerade deshalb ist es erstaunlich, dass die «Economist»-Leute mit der ungünstigen Beurteilung helvetischer Partizipation nicht alleine dastehen. Vor Jahresfrist wies das von Politologen der Universität Zürich und des Wissenschaftszentrums Berlin erarbeitete Demokratiebarometer der 30 besten Demokratien der Welt ebenfalls auf Partizipationsdefizite in der Schweiz hin. Ein «demokratisches Musterland» sei die Schweiz bei der Garantie individueller Freiheiten, aktiver Öffentlichkeit, Wettbewerb und Regierungsfähigkeit. «Gewaltenkontrolle, Transparenz und Partizipation werden aber nur sehr schlecht umgesetzt.» Die politische Beteiligung sei in der Schweiz besonders ungleich: «Ein grosser Teil der Schweizerinnen und Schweizer beteiligt sich nicht an der Politik. Diejenigen aber, die sich politisch beteiligen, sind vor allem die Gebildeten, Wohlhabenden, Älteren und überproportional Männer.»
Wie dem auch sei: Wir wagen jetzt mal die Aussage, dass diese Beurteilung helvetischer Partizipationsprobleme angesichts der globalen Verfassung demokratischer Institutionen als Jammern auf hohem Niveau bezeichnet werden darf. Gleichzeitig zeugte es von mangelnder demokratischer Kultur, würden die Hinweise auf Schwachstellen des schweizerischen Politsystems nicht ernst genommen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Die EBRD unterstützt die früheren Ostblockstaaten bei ihren Bemühungen, demokratische und marktwirtschaftlich orientierte Gesellschaften zu etablieren. Wenn aber Marktwirtschaft und Demokratie als etwas Zusammenhängendes und gleichsam als «Ende der Geschichte» gepredigt werden, obwohl die real existierende Marktwirtschaft als «Raubtierkapitalismus» und Refeudalisierungsprogramm (die sich der Demokratie oft bloss bedient) mit der Demokratie in Widerspruch gerät – ja kann man sich dann noch wundern, wenn die Demokratie in Misskredit gerät?