«Demokratie ist eine Praxis» (1/4)
27. Oktober 2016
Lieber Stefan
Lass‘ uns (wieder einmal) über Demokratie reden. Wir leben in widersprüchlichen Zeiten. Etwas plakativ gesagt: Rechte berufen sich auf die Demokratie, Linke misstrauen dem Volk. Zum Beispiel in der Migrations-, aber auch in der ökologischen Frage.
In der Schweiz helfen Linke mit, die von einer Bevölkerungsmehrheit angenommene Masseneinwanderungs-Initiative der SVP im parlamentarischen Prozess zu verwässern. Die deutsche AfD (Alternative für Deutschland) propagiert die direkte Demokratie nach Schweizer Modell. In den USA ist es immer noch denkbar, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, dass Donald Trump zum Präsidenten gewählt wird. Norbert Hofer von der Freiheitlichen Partei FPÖ könnte der nächste Präsident Österreichs werden. In Frankreich hat Marine Le Pen Chancen, irgendwann demokratisch an die Macht zu kommen.
Der deutsche Autor und Verfasser des Theaterstücks beziehungsweise des Fernsehfilms «Terror» Ferdinand von Schirach sagte im Gespräch mit der Wochenzeitung, an dem du ja auch beteiligt warst, zum Thema Volksabstimmungen, zum Beispiel über die Verwahrungsinitiative in der Schweiz: «Solche Volksabstimmungen haben wir nicht – weil wir die stärker gebrannten Kinder sind. Wir hatten derartige Abstimmungen bei den Nazis, und das war … wir wollen nicht drüber reden. Ich bin ein strikter Gegner davon.»
Der belgische Historiker David Van Reybrouck erklärte im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung: «Der einfachste Weg für einen Autokraten, an die Macht zu kommen, sind Wahlen. Ich bin dafür, China zu demokratisieren, aber wenn man im Sinn hat, die Welt zu zerstören, dann müsste man nur China dazu bringen, unsere demokratischen Rezepte zu importieren.»
Ist die Demokratie zu einem rechtskonservativen Projekt, das Volk zu einem Risiko für Menschenrechte und Frieden geworden?
Herzlich
Jürg
1. November 2016
Lieber Jürg
Deine Fragen lese ich gegenwärtig in London, und da bietet es sich natürlich an, die Demokratie-Debatte mit dem Brexit zu beginnen. Eine knappe aber unzweideutige Mehrheit der britischen Abstimmenden hat sich kürzlich entschieden, aus der EU austreten zu wollen. Was ist da passiert? Nun, zuerst einmal sind verschiedene Demokratieformen durcheinander geraten. Grossbritannien ist eine repräsentative Demokratie und ist von der Regierung Cameron mit einem Plebiszit in die Bredouille geritten worden. Das Abstimmungsresultat hat, streng genommen, nur Empfehlungscharakter: Es ist ein politischer Entscheid, dass es die neue Regierung May für verbindlich erklärt hat. Demokratietheoretisch sind viele Fragen ungeklärt: Könnte die Abstimmung bzw. deren Übernahme als Regierungspolitik noch juristisch angefochten werden? Wie stark muss die Regierung das Parlament über die laufenden Verhandlungen mit der EU informieren? Kann sie über ein allfälliges Verhandlungsresultat eigenmächtig entscheiden, oder muss darüber letztlich das Parlament befinden? Und welche Möglichkeiten haben jene Teile des Vereinigten Königreichs, die für den Verbleib bei der EU stimmten, wie Schottland und Nordirland? Solche Unklarheiten ergeben sich auch aus der Tatsache, dass Grossbritannien keine Verfassung besitzt, sondern dass sich die parlamentarische Demokratie Schritt für Schritt (mit gelegentlichen Revolutionen zu Beginn und dazwischen) entwickelt hat.
Soweit die nicht unwichtigen Legalitäten. Was die Frage nicht verdrängt, warum das Resultat so ausgefallen ist, warum eine knappe Mehrheit der Abstimmenden gegen alle Vernunft (und moralische Solidarität) «falsch» gestimmt hat. Nun, Demokratie ist eine Praxis, kein bloss formales Verfahren. Die britische Praxis ist parlamentarisch, nicht plebiszitär. Man kann nicht von einem Moment auf den andern die Demokratieform wechseln. Da die Form der Volksabstimmung nicht institutionell eingebunden ist, hat sie eine besondere, zusätzliche Bedeutung bekommen. Die Abstimmung über den Brexit war kein Sachplebiszit, sondern eine Abstimmung über die aktuelle Befindlichkeit der Nation. Verschiedene Nein – gegen die «Eliten» in Westminster, die Auswirkungen der Globalisierung, die angeblich bedrohliche Migration, das mediale Zerrbild von Brüssel, aber auch gegen die letzten Überreste eines sozialdemokratischen Europas – haben sich zu einem Ja zu Brexit zusammengesetzt. Die Abstimmung sollte innerparteiliche Flügelkämpfe der Konservativen beilegen; doch es war unverantwortlich und, ja, undemokratisch, ein solches Plebiszit in dieser Form und in diesem Rahmen anzusetzen.
Eine gute Freundin hier in England, die ich gerade getroffen habe, deren Eltern vor den Nazis aus Deutschland geflüchtet sind, überlegt sich allen Ernstes, einen deutschen Pass zu beantragen. Sie wütet dagegen, dass die Abstimmung mit «Lügen» gewonnen worden sei. Ja, es ist gelogen worden, dass sich die Balken bogen; aber ihre Betonung der Fehlinformationen hat auch damit zu tun, dass man sich in England die Form des Plebiszits nicht gewohnt ist.
Aber ich will mich nicht hinter dem Brexit verstecken, was die Frage des tiefer liegenden Problems betrifft, ob die Demokratie mittlerweile zu einer Gefährdung für sachgerechte, «vernünftige» Entscheide, ja, für die Menschenrechte geworden sei. In der Schweiz haben wir damit immer wieder einschlägige Erfahrungen gemacht, auch mit «Lügen». Ferdinand von Schirach will mit dem Verweis auf den Faschismus die plebiszitäre Demokratie gleich ganz aussen vor lassen – obwohl der Faschismus immer auch ein wenig ein Totschlagargument ist (im durchaus zwielichtigen Wortsinn). Deine Frage, ob die Rechten jetzt für Demokratie sind, kann ich allerdings nur als rhetorische verstehen – sobald die Resultate nicht (mehr) zu ihren Gunsten ausfallen, wollen sie nichts (mehr) von Demokratie wissen.
Dennoch und deshalb nochmals: Demokratie ist eine Praxis. Das System der Schweizer Volksabstimmungen ist etwas anderes als ein von oben eingesetztes Plebiszit. Bei allen gegenwärtigen Rechtstendenzen kann es immer noch korrigierend wirken. Ein Geflecht von Abstimmungen ist besser als die Konzentration auf eine alles entscheidende Zuspitzung – siehe die Korrektur anlässlich der Entrechtungs- alias «Durchsetzungsinitiative». Deshalb gilt es, die Praxis genau zu betrachten. Was sind ihre Rahmenbedingungen? Medien sind immer wichtiger geworden; siehe das gegenwärtige Trauerspiel in den USA. Welche Farbe hat das Geld, das dabei rollt? Diese Praxis muss in einem funktionierenden System der Gewaltentrennung stattfinden. Und es braucht einen Ausbau der Praxis. Das «Reichere», Vielfältigere, Differenziertere ist das Bessere.
Mehr dazu später. Jetzt gehe ich die kosmopolitische Seite Londons geniessen.
Herzlich
Stefan
1. November 2016
Lieber Stefan
Du schreibst den «falschen» Entscheid der Brit*innen – «gegen alle Vernunft und moralische Solidarität» – zentral dem Umstand zu, dass sie keine Erfahrung mit Plebisziten hätten. «Man kann nicht von einem Moment auf den anderen die Demokratieform wechseln.» Damit sprichst du den Brit*innen faktisch die Fähigkeit zur plebiszitären Demokratie ab. Aber spielen bei Wahlen nicht dieselben Phänomene wie bei Abstimmungen (Lügen, Fehlinformationen, mediale Inszenierungen, Geld). In den USA wird ja niemand Präsident*in, die oder der nicht über grosse Millionenbeträge verfügt. Um es auf den Punkt zu bringen – wenn die Brit*innen (und natürlich auch die Bürger*innen anderer Staaten) nicht zu «sachgerechten» Entscheidungen fähig sind, weshalb sollten sie besser in der Lage sein, geeignete Volksvertreter*innen zu wählen?
Auf diesem Hintergrund sind die Vorschläge von David Van Reybrouck interessant, der dafür plädiert, Wahlen mit einem Losverfahren zu ergänzen. «Das Recht, zu wählen, soll zu einem Recht auf Mitsprache ausgebaut werden. Und jeder soll die gleiche Chance haben, mitzuwirken. Eine Auslosung gibt jedem diese Chance.» Sagte er im Gespräch mit der NZZ am Sonntag vom 11. September 2016. Jean-Martin Büttner fasst das Vorgehen im Tagesanzeiger vom 30. August 2016 so zusammen: «Alle Bürgerinnen und Bürger aus dem Wählerverzeichnis eines Landes oder einer Stadt erhalten eine Einladung, sich um die Wahl zu bewerben. Wer das tut, nimmt an der Verlosung teil, deren Kriterium darin besteht, dass alle Teile der Bevölkerung angemessen vertreten sind.» Und auch für den Brexit-Entscheid hätte Van Reybrouck eine unkonventionelle Alternative gehabt: «Im Fall von Brexit hätte ich 500 bis 1000 Briten ausgelost und ihnen drei bis fünf Monate Zeit gegeben, alle Argumente abzuwägen, zu diskutieren und dann zu entscheiden. Sie hätten alle nötigen Dokumente und jeden gewünschten Experten erhalten. Das Resultat wäre viel überlegter gewesen als das, was wir heute haben.»
Sind das Ansätze, die in deinem Sinne zu einem Ausbau demokratischer Praxis, weg von «Trauerspielen», wie sie nicht nur die USA kennen, hin zu Wahlen, in denen alle Bevölkerungskreise Wahlchancen haben, hin zu differenzierten Sachentscheidungen anstelle des simplen Ja oder Nein zu einfachen Lösungen?
Herzlich
Jürg
PS. Das Stichwort London erinnert mich daran, dass es bei mir über vierzig Jahre her ist, dass ich in London war, die Skyline, wie ich aufgrund von Fernsehbildern sehe, ist heute eine ganz andere. Und der Speakers Corner, den ich damals fast jeden Tag besuchte, weil da mehrere spannende Debatten parallel geführt wurden – gibt es diesen Ort noch, der durchaus ein demokratischer genannt werden könnte?
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- Der zweite Teil dieses Mailwechsels erscheint in wenigen Tagen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Stefan Howald, WOZ-Redaktor und Publizist, hat 2014 das Buch «Volkes Wille? Warum wir mehr Demokratie brauchen» im Rotpunktverlag veröffentlicht.
Eine Freundin von Stefan Howald wütete dagegen, dass die Brexit Abstimmung mit «Lügen» gewonnen worden sei. Sie will jetzt das Land sogar verlassen. Gelogen wurde in Grossbritannien schon früher, unter Tony Blair, als Grossbritannien den USA in den Irakkrieg folgte, mit der Lüge von den Massenvernichtungsmitteln des Iraks, wie auch bei den Lügen vor dem Krieg auf dem Balkan, dem Krieg in Afghanistan. Schon vor langer Zeit, beim Sturz schon von Mossadegh im Iran durch die «Dienste», wurde gelogen, um damals die Profite der britischen Ölgesellschaften im Iran zu sichern. – Es war also schon vor dem Brexit etwas faul in der Demokratie Grossbritanniens. Faul war in Grossbritanniens auch, dass riesige Schmiergeldzahlungen von Rüstungskonzernen auf Weisung von oben nicht weiter untersucht werden durften. Andrew Feinstein dokumentierte diese kriminellen Deals in seinem Buch «Waffenhandel».
Nicht aufgeklärt wurde bisher der Terroranschlag der Grossbritannien am 7. Juli 2005 erlebte. Genau am Tag der Bombenanschläge wurde nämlich auch eine Übung durchgeführt, mit einem Szenario wie es an diesem Tag von den Extremisten in die Tat umgesetzt wurde, wie der Journalist Paul Schreyer ausführlich dokumentierte. http://www.heise.de/tp/artikel/32/32915/1.html. Schreyer präsentiert auch Links zu Filmen aus dem Archiv des britischen Fernsehens BBC die dies zeigen. – Nach offizieller Version war diese seltsamen Übungen, die auch Anschläge auf die U-Bahn Londons simulierten rein zufällig…