Tschechien betrügt die Schweiz
Am 11. Juni 2012 verschickte die Schweizer Botschaft in Prag an die in Tschechien lebenden Schweizer Bürger ihren Newsletter. Darin führt Botschafter André Regli aus, dass die für die Tschechische Republik bestimmten Gelder aus der sogenannten Kohäsionsmilliarde der Schweiz an die zehn mittel- und osteuropäischen Staaten der EU-Erweiterung von 2004 rechtzeitig platziert werden konnten, und er spricht dafür auch den tschechischen Behörden für die gute Kooperation seinen «aufrichtigen Dank» aus.
Heute hat die tschechische Website «aktualne.cz» allerdings bekanntgemacht, wie das bei der Verteilung dieses Geldes in Tschechien zu und hergegangen ist – an einem wenn auch kleinen, aber sehr konkreten Beispiel. Es betrifft das Umwelt-Ministerium, das schon seit langem der Korruption auch im grossen Stil verdächtigt wird.
Hier die Fakten:
Am 15. September 2011 war Eingabeschluss für Gesuche um Unterstützung von Projekten aus der Schweizer Kohäsionsmilliarde. Am 7. September 2011, also acht Tage vor Eingabeschluss, wurde die Vereinigung Envidea gegründet. Sie reichte ein Gesuch für die Realisierung eines Naturlehrgang-Wanderwegs ein und erhielt 3.12 Millionen CZK (Tschechische Kronen) zugesprochen (CHF 142’000).
Am 13. September 2011, also zwei Tage vor Eingabeschluss, wurde das «Centrum für Umwelt-Projekte» gegründet. Das Centrum reichte ein Gesuch ein für Ausbildung in Umweltfragen und erhielt CZK 1.86 Millionen zugesprochen (CHF 85’000).
Völlig unbekannt und deshalb auch ohne Gründungsdatum ist die Vereinigung Campanula. Sie erhielt für die Errichtung einer elektronischen Umwelt-Bibliothek CZK 1.26 Mio zugesprochen (CHF 57’000).
Der Sprecher des Umweltministeriums, Matyas Vitik, erklärte auf Anfrage, es sei «nichts Ungewöhnliches», wenn für bestimmte Projekte Organisationen neu gegründet würden. Ausserdem habe die Schweiz als Geldgeber keine Vorgaben gemacht, wie lange eine Organisation schon bestehen müsse, um einen Beitrag aus der Kohäsionsmilliarde zu erhalten.
Recherchieren lohnt sich
Der recherchierende Journalist von aktualne.cz, Pavel Baroch, hat sich damit allerdings nicht zufrieden gegeben. Denn alle drei Empfänger von Schweizer Geld haben immer noch keine eigene Website, wo man mehr erfahren könnte über diese Organisationen. Das kann sich, sagt auch Jan Skalik, Präsident der Vereinigung der Non-Profit-Organisationen in Tschechien, heute keine Non-Profit-Organisation mehr leisten. Pavel Baroch fragte deshalb auf dem Umweltministerium nach den aktuellen Kontakten der drei Organisationen, erhielt aber keine Antwort. Dann machte er eine Stichprobe und ging zur Trebonska-Strasse 530/2 im Prager Stadtteil Michle, der Adresse der Organisation Envidea, aber in diesem Haus gibt’s nur einen Arzt mit Praxis und daneben private Wohnungen. Einwohner des Hauses wissen auch nichts von Envidea.
Tschechien steht in Sachen Korruption ganz weit oben
In Tschechien ist Korruption allgegenwärtig. Während sie auf der Ebene der «Kleinen», zum Beispiel der Polizisten, die gegen Cash auf das Ausstellen einer Busse für zu schnelles Fahren verzichten, massiv abgenommen hat, hat die Korruption der «Grossen», vor allem auf Regierungsebene, ebenso massiv zugenommen. In den letzten Monaten vergeht keine Woche, wo nicht neue Korruptionsfälle aufgedeckt werden. Im Umweltministerium zum Beispiel ist vor nicht allzulanger Zeit ein interner Angestellter entlassen worden, weil dieser die telefonische Anweisung für die Verteilung von EU-Geld in verschiedene «Säcke» mit einem Tonband aufgenommen hatte.
Die EU hat zwischenzeitlich die Zahlung von Hunderten von Millionen Euro an Tschechien gestoppt, weil sie zusehen musste, wie das Geld zweckentfremdet versickerte – in unbekannte Taschen. Kenner der internationalen Korruptionsszene gehen davon aus, dass die Situation in der Tschechischen Republik mittlerweile auf dem Stand von Russland ist – oder schlimmer. Sie beziffern die in Tschechien durch Korruption versickerten Staatsgelder auf 15 Prozent des Staatshaushalts, was in etwa dem internationalen Mafia-»Abgeltungsprozentsatz» entspricht.
Auch die Schweiz muss genau hinsehen!
Während die westeuropäischen Medien – vermutlich aus sprachlichen Gründen; wer spricht schon Tschechisch? – nur wenig über Tschechien berichten, sind die Zeitungen in Tschechien selbst, obwohl deutschen und Schweizer Medien-Konzernen gehörend, so sehr mit der Regierung verbandelt, dass die erwartete Kontroll-Funktion der «Vierten Gewalt» schlicht nicht stattfindet. Ein bisschen kritisch sind zurzeit gerade noch die Website http://www.aktualne.cz und die Wochenzeitung Literarny Noviny. Sie müssten von der EU und von der Schweiz unterstützt werden!
Nachdem die EU jahrelang als Finanz-Kuh gemolken wurde, muss auch die Schweiz genau hinsehen. Selbst wenn Botschafter André Regli von guter Zusammenarbeit mit den tschechischen Behörden spricht, das Recht auf genaueres Hinsehen darf er sich nehmen lassen!
Projekt «ejo» wurde von tschechischer Seite abgelehnt
Zu den Gesuchen um Geld aus der Kohäsionsmilliarde der Schweiz gehörte auch eines der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag. Ihr Departement für Journalismus hätte gerne mit der Università della Svizzera Italiana in Lugano zusammengearbeitet, die das «European Journalism Observatory» ejo betreibt, eine Plattform für die Ausbildung von Journalisten und für die Erhaltung des Qualitäts-Journalismus. Die Schweizer Seite hätte das Projekt unterstützen wollen, die Regierung in Prag aber beschied dem Gesuch eine Absage: sowas brauche man in Tschechien nicht. Der abschlägige Bescheid ist nachvollziehbar: Die durch und durch korrupte Regierung hat kein Interesse an Journalisten, die der Sache auf den Grund gehen. (Inzwischen konnte ejo-Tschechien mit Geld aus einer anderen helvetischen Quelle realisiert werden.)
PS vom 15. Juni 2012
Einen Tag nach Erscheinen des Artikels auf der Info-Plattform aktualne.cz erklärte der Sprecher des Umweltministeriums Matyas Vitik in Abweichung zu seinen früher gemachten Aussagen, die Konditionen für die Vergabe von Geld aus der Schweizer Kohäsionsmilliarde an tschechische Umwelt-Organisationen seien schon unter dem Vorgänger des jetzigen Umweltministers festgelegt worden (Vorgänger von Umweltminister Tomas Chalupa war Pavel Dobril, der wie Tomas Chalupa der rechtsbürgerlichen ODS angehörte und der wegen Verdachts auf Korruption in Milliarden-Höhe zurücktreten musste). Der jetzige Umweltminister, Tomas Chalupa, werde die Sache untersuchen.
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Nachtrag vom 18.06.2012
Schweiz: alles läuft geordnet ab
Nur drei Tage, nachdem Infosperber über Unregelmässigkeiten bei der Zuteilung von Schweizer Geld in Tschechien aufmerksam gemacht hat, meldet das EDA über die Schweizerische Depeschenagentur, dass alles unter Kontrolle sei und erst Geld fliesse, wenn alles nachgeprüft sei. Auch das «Echo der Zeit» auf Radio DRS machte einen kurzen Beitrag zum Thema. Von Betrügereien mochte auf Schweizer Seite niemand reden. Immerhin wurde eingestanden, dass es nicht ganz einfach war, das bewilligte Geld in geeignete Projekte loszuwerden. (Siehe unten unter weiterführende Informationen: Stellungnahme EDA; Echo-Beitrag, sda.)
Man spürt es: Nicht nur die Privatwirtschaft, auch der Staat beschäftigt mittlerweile Heerscharen von Informationsspezialisten und PR-Fachleuten, die negative Vorkommnisse ins Positive zu drehen verstehen.
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Stellungnahme des EDA zu den beschriebenen Vorfällen in Tschechien siehe Link ganz unten.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor arbeitete in den 90er Jahren als General Manager von Ringier Tschechien und kennt Tschechien aus eigener Ansicht und Erfahrung.