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«Ebenso skandalös sind diejenigen, die diese Gewalt mit allen Mitteln verstehen wollen.» © Tamedia

Mörder(innen) verstehen = selbst Mörder(in) werden

Jürgmeier /  «Ach, diese Gewaltbegreifer!» oder der Versuch, den verzweifelten Seufzer eines Tages-Anzeiger-Journalisten zu verstehen

Als ich am Dienstag, 16.12.2014, durch die Zürcher Lagerstrasse, Nähe Europaallee, flanierte, knirschte das Glas noch da und dort unter meinen Füssen. «Zum wiederholten Mal ist unter dem Deckmantel ‹Reclaim the Streets› ein randalierender Mob durch Zürichs Innenstadt gezogen.» Hatte die Neue Zürcher Zeitung am Montag das gewalttätige Geschehen in der Nacht von Freitag auf Samstag, 13.12., zusammengefasst.

Ich fühlte mich an die Jahre 1980/81 erinnert. Als «die Zürcher Jugend» (oder wenigstens ein kleiner Teil von ihr) auf die Strasse ging und die Geschäfte an der Bahnhofstrasse dazu zwang, Gitter vor die glitzernden Auslagen zu montieren, nörgelten alte 68erInnen, sie hätten noch ein politisches Konzept gehabt. Als es im Herbst 2011 zwischen einem Teil der Zürcher Partyszene und der Polizei zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, beklagten selbst ehemalige 80erInnen die «sinnlose Gewalt». Sie hätten damals, als sie ihrerseits «Chaoten» genannt wurden, noch Ziele gehabt. «Gewalt braucht keinen Anlass… Wer sich mit Gasmaske und Schutzanzug aus dem Haus begibt, hat kein Interesse an einer politischen Kundgebung.» Kommentiert Fabian Baumgartner im Dezember 2014 in der NZZ.

«Gewalt in neuer Dimension»
Wer die Gewalt der Gegenwart als «sinnlos» einstuft, unterstellt, es gäbe eine andere, es hätte früher eine «sinnvolle» Gewalt gegeben. Tages-Anzeiger und Berner Zeitung stellen am 15. Dezember ein Interview mit dem Zürcher Polizeivorsteher Richard Wolff unter den Titel «Gewalt in neuer Dimension». Als wären die Pflastersteine in den guten alten Zeiten aus Filz, die Stahlkugeln – die in den Achtzigerjahren auch schon mal mit Schleudern auf vorbeifahrende Trams abgeschossen worden waren – aus Styropor gewesen.

Immer wieder wird aktuelle Gewalt, weil sie jetzt weh tut sowie Angst macht, als «absolut inakzeptabel» (Richard Wolff, Stadtrat Alternative Liste, in der NZZ) und ohne Sinn gegeisselt, vergangene als politische, als befreiende Tat verklärt. Weil der jahrzehntealte Schnee alles ein wenig versanftet. Und der Terrorist vergangener Tage wird, weil seine Opfer längst zu Staub zerfallen, zum Nationalhelden stilisiert.

«Da sich die Ereignisse nicht selbst erklären, erwecken sie den Eindruck der Sinnlosigkeit… Die Erwachsenen vermögen die Gewalt nicht mehr als sinnhaft und notwendig zu erkennen. Sie reduzieren die Gewalt auf ihre Faszination und ihren Schrecken», schreibt Walter Herzog (Professor für Pädagogische Psychologie an der Universität Bern) 1998 im Bericht «Prügeljugend – Opfer oder Täter?», herausgegeben von der Eidgenössischen Kommission für Jugendfragen.

Differenziertes Reden über Gewalt oder…
Es geht darum, den «Sinn» von Gewalt zu lesen und ihre Ursachen zu ergründen. Dass Gewalt Gründe hat, immer auch auf Hilflosigkeit&Verzweiflung zurückweist, macht sie für die Opfer – die mit solchen Befindlichkeiten der Täter(innen) im Allgemeinen nichts zu tun haben – allerdings nicht weniger schmerzhaft. «Die beste Prävention inakzeptabler Formen von Gewalt», so Herzog, «liegt in der Wiederbelebung eines differenzierten Redens über Gewalt.» Aber der Versuch, Gewalt zu verstehen, wurde immer schon, auch 1980, mit Legitimation von Gewalt beziehungsweise Mittäterschaft gleichgesetzt.

«Ach, diese Gewaltbegreifer!» Thomas Widmers tiefer Seufzer im Tages-Anzeiger vom 17.12.2014 hätte auch damals geschrieben werden können. Über solche wie mich, die über die Ursachen der so genannten «Zürcher Unruhen» laut&öffentlich nachdachten. «Mit allen Mitteln wollen Intellektuelle die Krawallanten von Zürich verstehen.» Zieht der Journalist 2014 über seinen Kollegen beim Onlineportal Watson Philipp Meier her. Der versuchte, in einem Facebook-Eintrag, die jüngsten «Ausschreitungen» zu erklären.

Es geht hier nicht um Inhalt&Gehalt der Analyse des ehemaligen Kurators des Zürcher Dada-Hauses, sondern um die pauschale Absage an den Versuch, das Phänomen Gewalt zu analysieren. In Anlehnung an das «Tout comprendre, c’est tout pardonner» wirft Thomas Widmer die Gewaltversteher in denselben Topf wie die Gewalt Ausübenden. Letztere «wollen das Recht, dort [auf der Strasse, Jm] Angst und Schrecken zu verbreiten… Ebenso skandalös sind diejenigen, die diese Gewalt mit allen Mitteln verstehen wollen.» Alles verstehen, heisst, alles verzeihen oder sogar entschuldigen.

… Rede- und Denkverbot für Täterversteher
Andrea Bleicher, die stellvertretende Chefredaktorin der SonntagsZeitung, treibt die Diffamierung der «Täterversteher» auf die Spitze, als sie, in Zusammenhang mit Pädophilie, an einem Sonntag im Juli dieses Jahres schreibt: «Fast in jedem Fall gibt es sie. Sie machen sich Gedanken, was ihn antreibt, diesen Mann. Analysieren, bringen Verständnis auf. Sie sind so damit beschäftigt, sich in die Gefühlswelt des Täters hineinzuversetzen, dass sie die Opfer vergessen.» Deshalb, so endet ihr Text, «möchte man den Täterverstehern zurufen: Schweigt!»

Statt des von Walter Herzog eingeforderten «differenzierten Redens über Gewalt» wird hier in letzter Konsequenz ein Rede- und Denkverbot für «Gewaltbegreifer» und «Täterversteher» postuliert. Wer nicht unter Tatverdacht geraten will, macht sich besser keine Gedanken über mögliche Hintergründe gewalttätigen Geschehens, schon gar nicht öffentlich. Wenn doch, muss er oder sie zuerst das Glaubensbekenntnis ablegen und sich von fremder Gewalt distanzieren. Als ob TierforscherInnen vorsorglich die Erklärung abgeben müssten, sie seien keine Affen, auch wenn sie versuchten, diese Primaten zu verstehen.

Weshalb eigentlich diese Angst vor dem Verstehen, wie sie auch in einem Text von Werner de Schepper über die deutschen Pegida-Demonstrationen (Pegida = Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) in der Aargauer Zeitung vom 17. Dezember zum Ausdruck kommt: «Wie in der Schweiz nach dem 9. Februar versuchen viele Medien und Politiker, zuerst einmal den Aufstand des ‹einfachen Bürgers› zu verstehen.»

Die Angst vor Ansteckung durch das Menschenmögliche
Wer Verstehen mit Einverständnis&Mittäterschaft gleichsetzt, hat Angst, beim Versuch des Verstehens seinerseits der Faszination von Gewalt zu erliegen und gleichsam «angesteckt» zu werden. Der oder die braucht das uneingeschränkte Unverständnis als beruhigende Selbstvergewisserung – so wie die bin ich nicht. Denn, so die verquere Logik, Mörder(innen) verstehen, heisst, selbst Mörder(in) werden.

Begreifen ist eben gerade nicht Bejahen. Die Ameisenforscherin mutiert, nur weil sie versteht, wie so ein Ameisenhaufen funktioniert, nicht zur Arbeiterin im Insektenstaat. Der Prozess des Ergründens schafft nur die Grundlagen dafür, das Denken&Handeln anderer zu verstehen. Erst jetzt kann es übernommen oder verworfen, unterstützt oder bekämpft beziehungsweise verhindert werden. Unverdächtige TV-KommissarInnen demonstrieren wöchentlich, dass das Verstehen der Täter(innen) und ihrer Optik es ihnen erst ermöglicht, diese zu finden oder sogar zu stoppen.

Hinter der Diffamierung des Versuchs zu verstehen verbirgt sich die Angst, es könnte alles viel schlimmer&komplizierter sein, als wir es uns in unseren schwarzweissen Welten gerne zurechtlegen. Die scharfe Trennlinie – Hie die Guten, dort die Bösen, und das sind immer die anderen – könnte nicht länger gezogen werden. Die Stilisierung zum Unverständlichen&Unerklärbaren hat zum Ziel, Gewalt&Massenmord als das der menschlichen Gesellschaft Fremde auszugrenzen. Die beklemmende Erkenntnis, dass das Grauen das Menschenmögliche ist, abzuwehren. «Das Pochen auf einem prinzipiellen Unterschied zwischen sich selber und dem Verbrecher entspringt zuletzt dem Bedürfnis, der Mitverantwortung für die Gesellschaft, die das Kriminelle hervortreibt, zu entgehen.» Notiert Arno Plack in seinem Buch «Die Gesellschaft und das Böse» schon vor Jahrzehnten.

Der Vorwurf an die Aufklärung beziehungsweise die intellektuellen VersteherInnen – dass sie die Welt so kompliziert machen, wie sie ist; dass sie uns in Taten verwickeln, mit denen wir nichts zu tun haben wollen; dass sie uns daran erinnern, dass sie allealle, ob «Krawallanten» oder KZ-Schlächter, unter uns zu dem geworden, was sie sind und waren. «Will die Gesellschaft ihre Verantwortung gegenüber der Gewalt von Jugendlichen wahrnehmen, muss sie sich als Teil des Problems sehen lernen», verlangt Walter Herzog.

Wir müssen sie allealle zu verstehen versuchen. Vor allem auch jene, deren Gedanken, Haltungen und Taten uns zutiefst zuwider sind. Gerade um den Täter(innen) wirksam entgegentreten sowie die psychosozialen beziehungsweise sozioökonomischen Voraussetzungen von Gewalt und menschenmöglichen Gräueln, inklusive unserer eigenen Verstrickungen, nachhaltig überwinden zu können.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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Gewalt

«Nur wer die Gewalt bei sich versteht, kann sie bei andern bekämpfen.» Jean-Martin Büttner

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2 Meinungen

  • am 23.12.2014 um 03:36 Uhr
    Permalink

    >Die Erwachsenen vermögen die Gewalt nicht mehr als sinnhaft und notwendig zu erkennen. <

    Eigentlich nur logisch, Erwachsene hätten ja dabei auch nur zu verlieren. Und genau aus diesen Gründen hat man ja auch versucht, die neuen Generationen zu möglichst gewaltlosen Geschöpfen zu züchten.

    Gewaltlos zwar nicht, aber immer mehr im femininen Stil, mit Hinterlist und Tücke, Mobbing und Rache, die rohe Kraft war nur noch Frauen erlaubt, um unerlaubte Anspielungen oder ähnliches grobes Fehlverhalten von zudringlichen Männern zu bestrafen.

    Dazu bestraft man das Befahren von Waldwegen per Gerichtsurteil, ruft sofort die Polizei, wenn mal drei Jungs Abends irgendwo im Schatten stehen, die sie dann filzt, zumindest, wenn sie nicht nur besoffen sind, und unternimmt so ziemlich Alles, um das Leben für Junge, so gut es nur möglich ist, nur immer noch schwerer und schwieriger zu machen.

    Und wer nicht genug Kohle verdient, um sich wenigstens einen kleinen Brocken vom goldenen Kalb grabschen zu können, ist einfach selber schuld, nur ein dummer Idiot zu sein.

    Die Erwachsenen haben vergessen, wie es war, Kind zu sein. Oder dann haben sie es gar nie selber erfahren dürfen. Was immer auch schief lief, wenn die Jugend keinen Freiraum (mehr) hat, schafft sie sich Einen. Ob es den Erwachsenen nun passt oder nicht.

    Selber schuld, wir wollten und wollen es so. Und wie Verdichteter wir sein werden, desto verdichteter werden wir es erleben. Naturgesetz, von mir!

  • am 25.12.2014 um 14:36 Uhr
    Permalink

    "Wir müssen sie allealle zu verstehen versuchen. Vor allem auch jene, deren Gedanken, Haltungen und Taten uns zutiefst zuwider sind."
    Wie anders kann man «allealle» Verstehen, wenn man nur ÜBER die «anderen», aber nicht MIT ihnen spricht und aus «objektiver» Sichtweise glaubt, zu wissen wie sie wirklich sind, bzw. sein müss(t)en? Gewalt wird von jenen angewendet, die meinen, nicht anders zu ihrem Recht kommen zu können. Das gilt von unten her genauso wie von oben.
    Nur: von oben wird viel mehr «Gewalt» angewendet, die zwar nicht im Scheibeneinschlagen besteht, aber im Nichtanhören wollen jener, die sich falsch behandelt fühlen.

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