Immer häufiger operieren Chirurgen gesetzwidrig
Das Gesetz schreibt vor, dass eine Behandlung sowohl «wirksam» als auch «zweckmässig» sein muss. Immer häufiger scheren sich Spitäler und Chirurgen keinen Deut darum.
Seit bald sechs Jahren weisen wir auf Infosperber regelmässig auf die vielen unzweckmässigen Überbehandlungen hin. Jetzt informieren darüber auch Peer Teuwsen und Gordana Mijuk in der «NZZ am Sonntag» vom 30. Oktober. Unter dem Titel «Ist das wirklich alles nötig? stellen sie auf einer Doppelseite fest:
«Die Überversorgung ist zu einem der grössten Probleme geworden im Schweizer Gesundheitswesen. Darüber gesprochen wird jedoch selten.»
Es sei schwierig, offen zuzugeben, dass ein Teil des ständigen Kostenwachstums auf überflüssige Behandlungen zurückgeht: «Wie viel einfacher ist es, die Schuld am Anstieg der Gesundheitskosten der alternden Gesellschaft zuzuschreiben.»
Lediglich das Wort «gesetzwidrig» braucht die «NZZ am Sonntag» nicht, selbst beim Aufzählen einer «besonders krassen Form von Behandlungen ohne Nutzen».
Dass weder die alternde Gesellschaft noch der medizinische Fortschritt die Hauptgründe der Prämiensteigerungen sind, wie Gesundheitsminister Alain Berset kürzlich wieder behauptete, hatte Infosperber schon mehrmals aufgezeigt. Siehe «Klartext zu den steigenden Kassenprämien». Zu Überbehandlungen ohne Nutzen, aber mit Risiken für die PatientInnen, gibt es auf Infosperber ein ganzes Dossier.
«Menschenmedizin»
Die «NZZ am Sonntag» berichtete über Aussagen einer Ärztegruppe, die dem Verein «Akademie für Menschenmedizin» angehören. Akademie-Gründer Christian Hess, früher Chefarzt für Innere Medizin am Spital Affoltern ZH, kritisiert Spitäler, die ihren Chefärzten Mindestzahlen von Operationen vorgeben. Falls sie diese übertreffen erhalten sie einen finanziellen Bonus. Hess zitiert eine FMH-Studie, wonach bei Chefärzten die leistungsabhängigen Prämien bereits einen Viertel der Löhne ausmachen. Entsprechend gering ist der Anreiz, PatientInnen beispielsweise zu raten, mit einem Ersatzgelenk möglichst lange zuzuwarten und es vorerst beim Bekämpfen der Schmerzen zu belassen. Im Gegenteil: Das schmälert die Einkommen von Chirurg und Spital.
Die «NZZ am Sonntag» informierte nicht darüber, dass solche Boni, die von der Zahl der durchgeführten Operationen abhängen, in unserem Nachbarland Deutschland verboten sind. Ebenso in Holland und ganz Skandinavien.
Die Folgen stellt man zum Beispiel bei den Hüft- und Knieprothesen fest: Solche werden in der Schweiz häufig zu früh eingesetzt. Diese offensichtlich besonders lukrativen Operationen haben seit der Boni-Politik rasant zugenommen: Im Jahr 2003 wurden in der Schweiz noch weniger als 9000 Knieprothesen eingesetzt, im Jahr 2014 über 21’000. Mit der etwas grösseren Zahl älterer Personen hat das wenig zu tun.
Auffallend: Chirurgen setzen den Halbprivat- und Privatversicherten doppelt so häufig eine Knieprothese ein wie Allgemeinversicherten, bei denen es weniger zu verdienen gibt. Ähnlich sehe es bei Eingriffen an der Wirbelsäule oder beim Ersatz von Hüftgelenken aus, sagt Annina Hess-Cabalzar, Psychotherapeutin und Präsidentin der «Akademie Menschenmedizin».
Keine Frage: Für viele Ältere mit anhaltenden Knie- oder Hüftschmerzen sind Ersatzgelenke ein grosser Segen. Das Problem besteht darin, dass Prothesen immer häufiger zu früh eingesetzt werden. Das ist nicht im Interesse der PatientInnen, weil die Prothesen nicht ewig halten, sondern meistens nach zehn bis fünfzehn Jahren ersetzt werden müssen.
Oder es werden Prothesen noch bei sehr Betagten und Multimorbiden eingesetzt, die sich von der Operation nicht mehr erholen und keinen Nutzen mehr davon haben.
Viel Unnötiges und Leidensverlängerndes am Lebensende
Eine unzweckmässige (Red. und deshalb gesetzwidrige) Überversorgung sei bei todkranken Menschen verbreitet, erklärt Peter Meier-Abt, Präsident der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften. Es sei verständlich, dass Menschen so lange wie möglich leben möchten: «Die meisten Ärzte befördern diese Haltung, indem sie die Hoffnungen der Patienten unterstützen».
Eigentlich wären Ärztinnen und Ärzte verpflichtet, die PatientInnen über die Risiken und Nachteile weiterer Behandlungen ebenso gut aufzuklären wie über den möglichen Nutzen. Der Goldstandard wäre die Information über die «Number needed to treet» NNT und über die «Number needed to harm» NNH. Es geht um die einfach verständliche statistische Wahrscheinlichkeit von Nutzen und Schaden: Wie viele PatientInnen müssen wie vorgeschlagen behandelt werden, damit eine einzige davon profitiert? Und wie viele PatientInnen müssen wie vorgeschlagen behandelt werden, so dass eine von ihnen einen grösseren Schaden davon trägt?
Aufgrund dieser Informationen würden manche Todkranke auf eine weitere Chemotherapie oder eine weitere Organoperation verzichten. Reto Stocker, Intensivmediziner und Institutsleiter an der Zürcher Hirslandenklinik sagt: «In Situationen, in denen medizinische Massnahmen nicht mehr sinnvoll sind, müssen wir als Ärzte das Behandlungsziel in Richtung reiner Linderung ändern.»
Die «NZZ am Sonntag» kommentiert: «Solche Worte waren von führenden Ärzten bisher nicht zu hören.»
Defensive medicine
Ein zusätzlicher Grund für unnötige und unzweckmässige Überbehandlungen besteht darin, dass Ärzte kaum je verklagt werden, wenn sie zu viel diagnostiziert, behandelt und operiert haben. Dagegen sehen sich Ärzte viel häufiger mit Zivilklagen und Strafanzeigen konfrontiert, sie hätten eine möglicherweise nützliche Therapie oder Operation unterlassen. In Fachkreisen spricht man von «defensive medicine». Patienten- und Konsumentenorganisationen fordern schon lange eine Änderung der Haftpflicht-Regelungen. Die FMH hat bisher keine konkreten Vorschläge erarbeitet, um diesen falschen Anreiz für unzweckmässige Behandlungen auszumerzen.
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DOSSIER: «Unnütze Abklärungen und Operationen»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Privat versichert sein, kann gefährlich sein!
Nicht nur beim Hausarzt, sondern auch bei Überweisung in eine Klinik, scheint es besser, Patient und nicht Kunde zu sein. Der Artikel hat mich an ein Erlebnis erinnert, als ich einen langjährigen Freund in seinen letzten Tagen begleitete. Die Diagnose für den 76-Jährigen lautete auf Prostatakrebs mit Metastasen, der Onkologe prognostizierte zwei zusätzliche Lebensjahre. Pünktlich, nach kaum 23 Monaten stellten sich unerträgliche Rückenschmerzen ein, der Patient verlangte (etwas spät!) nach Exitbeitritt und wurde als Privatpatient in eine renommierte, internationale Privatspitalgruppe überwiesen. Pech hatte mein Freund, dass er privat versichert war. Ich hatte ihn in den letzten drei Wochen vor seinem Tod siebenmal in der schicken Klinik besucht, konnte aber nicht verhindern, dass nochmals drei teure Operationen mit Vollnarkosen durchgeführt wurden. Auf meine Einwände antworteten die Chirurgen, der Patient würde ohne Lungen-/Nierenoperation die Nacht nicht überleben, was ja eigentlich der Wunsch des Sterbenden war. Privat versichert sein, kann gefährlich sein! Die letzten drei Tage verbachte mein Freund in einem „Reka-Klink“ genannten Sterbehospitz. Die Privatklinik will ja eine gute Sterbestatistik. Er verstarb nach einem unnötig verlängerten, unmenschlichen Sterbeprozess, ohne Exithilfe, dafür war es zu spät.
Martin A. Liechti, Maur
Überdiagnosen haben einen extrem grossen Anteil an den jährlich stattfindenden Prämienexplosionen, welche nur zu 20% der demografischen Alterung und dem medizinisch-technischen Fortschritt zugeschrieben werden können.
An der Teuerung tragen aber auch willkürliche Rationierungen (Unterbehandlungen) sowie Fehldiagnosen unserer Leistungserbringer bei. Ersteres unterliegt oftmals leider ebenfalls finanziellen Partikularinteressen, welche z.B. in HMO-Versicherungsmodellen über Retrozessionen im Gesundheitswesen fälschlicherweise politisch gezielt gefördert werden.
All dies trägt leider zum aktuellen Qualitäts- & Kosteneffizienzproblem im Schweizer Gesundheitswesen bei.
Die Lösung liegt in einer entsprechenden systematischen Optimierung des medizinischen Behandlungsentscheides (Indikation) sowie Analyse des daraus resultierenden Behandlungsverlaufes (Outcome) dank ‚obligatorischer Zweckmässigkeitsforschung’ (Umsetzung WZW-Kriterium „Zweckmässigkeit gemäss KVG Art. 32 Abs. 1) sowie Expertenaudits unserer Leistungserbringer (https://www.facebook.com/Medikamentenpreise/photos/a.199716103405873.49748.130475856996565/1254310254613114/?type=3&theater ). Also in der grössten Herausforderung der Medizin: Rationalisierung des medizinischen Leistungskatalogs als Grundlage zur Förderung von Qualität und Wahrung von Kosteneffizienz.
Und wen plagt Santésuisse mit ihren unsäglichen WZW-Verfahren aufgrund unsäglicher Statistiken, welche nur die in den Praxen generierten, nicht die viel höheren in Spitälern verursachten oder durch gute Beratung und eigene Therapie verhinderten Kosten erfassen und diese erst noch mit einem oft nicht vorhandenen Vergleichskollektiv vergleichen? Nein, nicht diese Ärzte und Spitäler, sondern die praktisch tätigen Hausärzte und nicht invasiv / operativ tätigen Spezialisten, welche die einzigen sind, die Patienten unabhängig beraten und vor unnötigen Eingriffen schützen können. Sie verleiden ihnen dadurch ihre mehrheitlich WZW-optimale Arbeit und schrecken junge Ärzte davor ab, das Spital zu verlassen und in die Praxis zu gehen. So kann es nur immer noch teurer, qualitativ schlechter und unmenschlicher werden.
Herr Binder, warum gehen Sie so auf die Hausärzte los? Ich habe ziemlich schlechte
Erfahrung bei einem Chirurgen, der mich «auseinandernehmen und neu zusammensetzen» wollte Bereich Wirbelsäule. Zum Glück holte ich 2. Meinung ein und
dieser Chirurg «schaffte etwas Platz» damit es keinen Druck mehr gab.
Gibt da und dort solche und solche.
Andere Frage: warum gibt es in der Schweiz «MEZIS» NICHT? Steht für «mein Essen zahle ich selbst» Verein Ärzte gegen Korruption und ist unter verschiedenen
Bezeichnung in diversen Ländern.
Frau Schmidlin, MEZIS hat es in der CH deswegen so schwer, sich auszubreiten weil im Gegensatz zum Ausland finanz. Vorteilsnahmen geduldet, ja sogar von BR & Parlament eine rechtl. Grundlage bekommen. Wenn nicht, werden Gesetze leider widersprüchlich gestaltet, so dass gezielt jurist. Grauzonen als „Kavaliersdelikte“ für die div. finanz. Partikularinteressen entstehen. Weshalb soll ich als Arzt nun wirtschaftl. Vorteilsnahmen ablehnen, wenn es die überwiegende Mehrheit tut und ich keine strafrechtl. Konsequenzen zu befürchten habe?! Dies ist leider eine menschl. Grundcharaktereigenschaft. Dies nicht zu tun entspräche wahrem Charakter. Diese Mängel bestehen punkto KVG nun schon seit über 2 Jahrzehnte, weshalb die finanz. Eigenvorteilsnahmen gar nicht mehr als bedenklich sondern als selbstverständlich betrachtet werden.
Apropos Herr Binder. Wie Sind Sie versichert? Eventuell in einem HMO-Grundversicherungsmodell mit Budgetverantwortung? Dann bezieht Ihr Hausarzt Retrozessionen für gezielte kostenineffiziente Leitungsrationierungen, um das geheimvertraglich vereinbarte Budget einzuhalten. Falls so versichert, fragen Sie doch einmal Ihren Hausarzt nach dessen Retrozessionen gemäss OR Art. 400, solange die HMG-Revision zu geldwerten Vorteilsnahmen noch nicht rechtskräftig ist. Er wird dies verweigern. Warum wohl verhindert man gesundheitspolit. adäquate Zweckmässigkeitsforschung sowie systematische Kontrolle von Indikation und Outcome? Ein Schelm der Böses dabei denkt.
Herr Keusch, danke für die ausführliche Erklärung. Man verhindert nicht nur die Zweck
mässigkeitsforschung. Man versucht dort, wo sie schon lange erfolgreich durchgeführt worden ist, und praktisch bewährt ist, die Veröffentlichung zu verhindern.
Hausarzt kann ich kaum fragen. Wenn alle sowenig Bedarf hätten, hätten wir die ganze Problematik nicht.
Ja, ja unser BAG & Co unterstützt den Umsatz der Gesundheitsbranche.
WHO usw. empfiehlt 50 Gramm zugesetzten Zucker pro Tag und meint nur 25 Gramm wäre besser. Und unser BAG gewährt uns 100 Gramm pro Tag. Sind Schweizer anders
gebaut, als der Rest der Welt.
Die Umwelt-Pensionisten sollten sich auch dieses Themas annehmen.