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Psychiatrische Klinik oder betreutes Heim © Lauter1986.Flickr.CC

Tritt fassen im Leben mit heissem Draht zur Klinik

Christian Bernhart /  Der Kanton Bern will die zu hohe Bettenzahl in psychiatrischen Kliniken abbauen. Dafür braucht es betreute Wohnheime (2. Teil).

Der überdurchschnittlich lange Aufenthalt in den Psychiatrischen Kliniken kommt dem Kanton Bern teuer zu stehen. Doch noch fehlen geeignete Wohnheime. Nun bahnt sich eine Lösung an: Werden Patienten nach der Entlassung weiterhin von der Klinik betreut, dann lassen sich auch Wohnplätze für schwierige Patienten finden. Und dann kann auch der Kanton Bern teure Klinikbetten abbauen. Die Stadt Winterthur hat es vorgemacht.
Monat für Monat ist die Situation in der Klinik Waldau der Berner Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) dieselbe: Für 40 bis 50 Patienten läuft monatlich die Suche nach Plätzen in Wohnheimen oder Wohngruppen. Ihre klinische Behandlung ist eigentlich zu Ende. Der Folgeschritt für den langfristigen therapeutischen Erfolg wäre wichtig. Dieser hiesse, im Wohnheim nach und nach im Leben Tritt zu fassen. Doch der Schritt will nicht gelingen, weil der Kanton Bern über zu wenig Wohnheime verfügt (siehe Teil 1). Dazu kommt, dass die bestehenden Wohnheime meist nicht über das geschulte Personal verfügen. Die Betreuung ist anspruchsvoll, wenn Patienten am neuen Ort eine Krise erfahren, kurzfristig aggressiv werden und ausflippen, wie das im Beispiel der 23-jährigen Patientin Rosa Meier* zeigt. Das Heim schickt solche Patienten wieder in die Klinik zurück und ist nach der Eskalation kaum mehr bereit für eine Wiederaufnahme. Dann wird es mal zu mal schwieriger, ein weiteres Heim zu finden, das diesen Person eine neue Chance bietet.

729’000 Franken Einsparungen
Wie Lisa Aeberhard, Leiterin der Sozialdienste der UPD, erklärt, sind etwa die Hälfte der 40 bis 50 Patienten, die monatlich auf einen Wohnheimplatz warten, schwierige Patienten. Überdies befinden sich darunter psychisch Kranke mit chronischem Verlauf. Im letzten Jahr musste die UPD 39 Patienten an insgesamt 2’423 Pflegetage betreuten müssen, obwohl diese nicht mehr spitalbedürftig waren. Könnten die UPD an deren Stelle Patienten mit akuten Problemen behandeln, würde sich ihr Defizit um 729’000 Franken verringern, da Akutpatienten mit einem höheren Krankenkassentarif entschädigt werden.
Gleichzeitig müssen die UPD Akutpatienten abweisesn oder zu früh entlassen. Dann kehren sie wiederholt zurück; ein kostspieliges Phänomen, das Drehtürpsychiatrie genannt wird.

Solothurn und Winterthur als Vorbild
Das Problem ist auf der Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) seit mehr als einem Jahrzehnt bekannt. 2005 lancierte die GEF ein Projekt für eine Koordinations- und Beratungsstelle für äussert anspruchsvolle Platzierungssituationen (KBS), liess 6 Konzeptversionen ausarbeiten und beauftragte anfangs 2012 eine externe Trägerschaft mit der Aufgabe. Spärliche Erfolge sind nur für Plätze von geistig Behinderten zu verzeichnen. «Bei Menschen mit psychischer Behinderung konnte bisher kein nennenswertes Resultat erreicht werden», teilt Jean-Philippe Jeannerat, Informationsbeauftragter von SP-Gesundheitsdirektor Philippe Perrenoud mit.

Die UPD haben ihrerseits Ende 2012 der GEF Lösungsvorschläge unterbreitet. Diese richten sich nach dem bereits erprobten Modell des «Intensive Case Management» (ICM). Der Kernpunkt besteht darin, dass die Patienten in den Wohnheimen oder Zuhause weiterhin durch die Klinik betreut werden. Bahnt sich eine Krise an, suchen deren Fachleute die Patienten auf und nehmen sie im Notfall für eine bestimmte Zeit in die Klinik zurück. «Damit», gibt sich Aeberhard überzeugt, «können wir Wohnheime gewinnen, auch schwierigen Patienten aufzunehmen und ihnen nach einer Krise eine neue Chance zu bieten.» Dieses Vorgehen bewährt sich in Winterthur seit 2000. Dazu Gisela Heim, Leiterin Soziales und Netzwerk der «Integrierten Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland»: «In den ersten drei Monate nach dem Klinikaustritt durchleben die Patienten die schwierigsten Momente. Damit Patienten den Weg für einen strukturierten Alltag finden, ist eine weitere intensive Betreuung wichtig.» Winterthur hat dieses Modell in den letzten 12 Jahren stets evaluiert und angepasst. Inzwischen konnte die Klinik-Bettenzahl pro 100’000 Einwohner auf 50 reduziert werden. Im Kanton Bern beträgt sie hingegen zwischen 70 und 80 Betten, was die Psychiatrie dementsprechend verteuert.

Forschungen ergaben, dass zentrumsnahe Wohnheimplätze mit Kontakt zu einer Klinik nicht nur den Patienten zugutekommt, sondern auch Geld einspart. So zeigte 2009 die psychiatrische Klinik der Heinrich-Heine Universität in Düsseldorf in einer Studie, dass diese begleitende Betreuung bei 47 schizophrenen Patienten die erneute Rückkehr in die Klinik um die Hälfte reduzierte. Die Berner Gesundheitsdirektion sendet vorerst zustimmende Signale: «Sollten sich Wohnheime und Trägerschaften für ein «Intensive Case Management» ICM einsetzen wollen, würde unsere Direktion die entsprechenden Gesuche in finanzielle Hinsicht wohlwollend prüfen.»
Nun muss die Gesundheitsdirektion von sich aushandeln. Sie wurde nämlich vom Kantonsparlament in der Spardebatte von Ende November abgestraft. Gegen ihren Willen kürzte der Grosse Rat die Beiträge an die Psychiatrie um 10 Millionen Franken mit der Forderung die notwendigen Heimplätze zu schaffen. «Wir werden ab nächster Woche intensive Gespräche mit den drei kantonalen psychiatrischen Einrichtungen führen und nach Lösungen suchen», teilte darauf Jean-Philippe Jeannerat, Sprecher der Gesundheitsdirektion Ende November der Berner Zeitung mit.

*Name auf Wunsch der Patientin geändert

Siehe Teil 1: «Zu langes Warten in der Klinik auf neue Chance»

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Dieser Beitrag erschien etwas ausführlicher in der Berner Zeitung.

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