Die Personalisierte Medizin als neuer Schlager (I)
Red. Peter Möhr-Buxtorf ist FMH-Facharzt für Innere Medizin in Wädenswil ZH. In der Ärztezeitung publizierte er eine Auslegeordnung der «Personalisierten Medizin», die wir übernehmen dürfen.
Die Ausgangslage – das traditionelle Geschäftsmodell
Der globale Pharmamarkt ist seit Beginn der 80er-Jahre stetig gewachsen und hat bis heute einen Umfang von jährlich über 500 Milliarden Dollar erreicht, wobei die Hälfte auf die USA entfällt. Daran partizipieren insbesondere die Top Fifteen (Big Pharma), unter denen Novartis Platz 1, Pfizer Platz 2 und Roche Platz 3 einnehmen (3). Die Grenzen zwischen Pharma, Diagnostik, Biotechnologie und Medizintechnik haben sich verwischt.
Wenige eigene Forschungserfolge
Das Big Pharma-Geschäftsmodell (= Blockbuster-Modell) folgt seit der Reagan-Aera einer konsequenten Gewinnmaximierung innerhalb und ausserhalb der legalen Leitplanken. Margen von 15-20 Prozent sind üblich. Der Pharma-Gewinn überstieg noch 2003 den kumulierten Gewinn aller übrigen von Forbes gelisteten Industrien (Margen im Schnitt rund 4 Prozent). Blockbuster sind Medikamente mit Jahresumsätzen von 1 Mia. Dollar und mehr. Ein bis drei solcher Blockbuster auf dem Markt bilden die Geschäftsbasis einer Firma; weitere, in der Pipeline gestaffelte sichern den langfristigen Erfolg. Trotz angeblich enormen Forschungs- und Entwicklungskosten war die firmeneigene Innovationskraft noch nie brillant. Sie hält seit den 90er-Jahren mit den Erwartungen überhaupt nicht mehr Schritt. Lizenzverträge mit auswärtigen Forschungsstellen, Firmenzukäufe und eigenmächtige Marktausweitungen für bereits etablierte Medikamente waren und sind die Folge (4, 5).
Grosse Pharma-Firmen suchen deswegen die Nähe zu staatlichen, mit Steuer-geldern alimentierten Hochschulen (z.B. MIT, NIH, NCI, ETHZ) und deren Grundlagenforschern, oder sie kaufen innovative Start-up Firmen mit pfannenfertigen Produkten. Das spart ihnen Kosten in der präklinischen Phase der Medikamentenentwicklung (6).
Fokus auf «rentable» Krankheiten
Bezüglich anvisierten Krankheitsspektrums hat sich die Pharmakotherapie von chronischen Krankheiten sowie solchen, die unter einer zahlungskräftigen Bevölkerung verbreitet sind, als lukrativ erwiesen: Diabetes mellitus, Hypertonie und Hypercholesterinaemie (Grenzwerte sind manipulierbar), Allergien, Refluxkrankheit, Autoimmunkrankheiten wie Multiple Sklerose, Polyarthritis; schmerzhafte Arthrosen; Depressionen und andere psychische Störungen; neu als Krankheiten definierte physiologische Zustände wie Angstzustände, Schüchternheit, praemenstruelles Syndrom und Menopause, sexuelle Unterfunktion des alten Mannes («disease mongering») (7, 8); unter den ansteckenden Krankheiten HIV-Infektionen in Industrieländern, nicht jedoch zwar verbreitete, finanziell aber unergiebige Infektionskrankheiten der Dritten Welt (Malaria und Durchfall). Ähnlich unattraktiv waren bisher seltene Krankheiten, welche mit «Orphan Drugs» behandelt werden müssen. Mit der Zystischen Fibrose hat sich das geändert.
Erfolgversprechender als Novitäten, da Forschungskosten einsparend und relativ risikoarm, sind Nachahmerprodukte eines bereits eingeführten Block-busters («ME-too drugs»). Sie machten bisher das Hauptgeschäft aus (1, 4).
Big Pharma schaltet sich in der Klinischen Erprobungsphase der Medikamenten-Evaluation, besonders in Phase III ein und wünscht über alle Daten zu verfügen. Das erlaubt den Firmen, negative Studien nicht zu publizieren und bevorzugt positive für das Zulassungsprozedere und das Marketing zu verwenden. Falls sich ein verzerrtes Bild ergibt, werden die Biases im Geschäftsinteresse interpretiert. Rund die Hälfte aller Studien sind gar nie publiziert worden.
Der Patentschutz wird zäh verteidigt, seine Dauer ist beschränkt dehnbar. Er schiebt die Konkurrenz von Generika hinaus und verschafft dem neuen Arzneimittel eine lange Monopolstellung auf dem «freien» Markt (9). Der Patentschutz vermag die Entwicklung von allenfalls billigeren Alternativpräparaten zu blockieren, z. B. durch Genpatentierung (HER-2 durch Genentech). Eines von fünf interessanten Genen geniesst ja bereits diesen privaten Patentschutz.
Im Stadium der Zulassung wird seitens der Firmen viel Hintergrundarbeit, nicht zuletzt informelle geleistet. Es geht um die Festlegung des Indikationsbereichs des neuen, verschreibungspflichtigen Mittels, die vorschriftsgemässe Information von Fachwelt und Konsumenten, die Preisgestaltung und den Entscheid bezüglich Spezialitätenliste mit Kassenvergütung.
Nach einer Markteinführung schliesst die obligate Postmarketing Phase (IV) an. Sie wird von den Firmen nicht bloss hinsichtlich Bewährung des Mittels im Praxisalltag und nicht bekannte oder bereits bekannte Nebenwirkungen, sondern vor allem fürs Marketing bei medizinischen Fachpersonen und Laien-Publikum intensiv genutzt.
Wir Ärzte – als «Gatekeeper» im System – werden bereits in der Ausbildungsphase, später in der Praxis von einem Heer persönlicher Pharmaberater informiert, umworben und mit Musterpackungen bedient. An den von der Industrie gesponserten Ärzte-Fortbildungsveranstaltungen – wo verlangte Weiterbildungs-punkte erworben werden können – treten prominente, oft an den Studien beteiligt gewesene Forscher und Kliniker als Meinungsbildner auf. Ihre Instrumentalisierung ist teilweise bekannt (10, 11). Dieselben Experten sind häufig an der Ausarbeitung von sogenannten Guidelines mitbeteiligt, welche die neuen Markenpräparate in die Praxis einordnen sollen. Beachtung oder Nichtbeachtung solcher Guidelines wird gegen die Ärzteschaft als Qualitätskriterium ausgespielt.
Lobby-Organisation für die Bio-Medizin
Der erklärten und versteckten Interessenkonflikte waren und sind viele (12). Im Rahmenprogramm der erwähnten Veranstaltungen und Kongresse kamen FFF (food, flattery and finance) stets gut an – bis die FMH 1991, die Schweizerische Akademie für Medizinische Wissenschaften (SAMW) 2006, rev. 2012, und Swissmedic 2006 der Munifizenz der Industrie und dem korrumpierenden Sponsoring der Ärzte einen engeren Rahmen zu setzen versuchten (9).
Im kleinstaatlichen Rahmen werden die politischen Einflussmöglichkeiten nicht vernachlässigt. So hat sich 2015 in Berner Lobby-Kreisen neu eine «IG für biomedizinische Forschung und Innovation» konstituiert. Ihr Sekretariat ist bei Interpharma angesiedelt (Generalsekretär Thomas Cueni). Es gehören ihr ein gutes Dutzend bürgerliche Parlamentarier an, welche auch in den parlamentarischen Gesundheitskommissionen vertreten sind (siehe Lobbywatch).
Erweitertes Geschäftsmodell der Big Pharma
Das bisherige Blockbuster– Modell basiert auf der Behandlung von möglichst grossen, voll zahlenden Patientengruppen mit verschreibungspflichtigen Medikamenten. Die Mittel werden von staatlichen Kontrollbehörden zugelassen, wenn sie sich in randomisierten, doppelblinden klinischen Studien als prinzipiell wirksam gegenüber Placebo erwiesen haben. Selten wird das neue Mittel statt gegen Placebo mit einem bereits eingeführten, bewährten und billigeren verglichen. Nur ausnahmsweise finden Vergleiche mit nicht medikamentösen Therapien statt. In die Studien eingeschlossen werden diagnostisch erfasste Erwachsene, im allgemeinen unter 65 Jahren, selten Kinder. Die Studiendauer ist meist Wochen, gelegentlich Monate, selten Jahre. Die untersuchten Studiengruppen sind heterogen bezüglich Begleitkrankheiten, Begleitmedikation und Medikamentenstoffwechsel. Die Studienresultate werden von den verantwortlichen Pharmafirmen gefiltert, zum Teil unterschlagen und fürs Marketing verbogen (4, 5, 13).
Die Studienresultate widerspiegeln bestenfalls Durchschnittswerte und liefern für das Vorgehen im Einzelfall blosse Wahrscheinlichkeiten. Darauf beruht das Konzept der sogeannnten Evidenzbasierten Medizin EBM. Es gibt Auskunft darüber, wie viele Patienten behandelt werden müssen, damit sich bei einigen ein Effekt zeigt («The Number needed to Treat, NNT»). Die Evidenzbasierte Medizin analysiert auch die Qualität von Studien. Unbestechlich geprüft werden solche durch das Netzwerk der Cochrane Library in systematischen Reviews, in denen aktuelle Forschungsergebnisse zusammengefasst werden. Das kostenlose Angebot steht selbst Laien offen (SAMW).
Auf diese Weise nehmen täglich Millionen von Menschen Medikamente ein, die ihnen nichts nützen und gelegentlich schaden (6, 14). Über alles geschätzt profitieren 10-70 Prozent, im Schnitt vielleicht ein Drittel. Weiterhin ist kein Geheimnis, dass viele Patienten das verschriebene Medikament überhaupt nicht schlucken, was in der Fachsprache mangelnde Compliance oder Adherence heisst. Dabei hält sich der qualitätsbewusste Arzt getreulich an die offiziellen Richtlinien (Guidelines) und gibt sich und seinem Patienten gegenüber Rechenschaft über die erwarteten und unerwünschten Wirkungen.
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Personalisierte Medizin (PM)
Personalisierte Medizin (PM) ist keine grundsätzlich neue Strategie, um Krankheiten vorzubeugen, sie zu diagnostizieren und zu behandeln. Das verfügbare Wissen, bekannte Heilmittel und Techniken wurden seit jeher eingesetzt, um für den individuellen Patienten das bestmögliche Resultat zu erreichen (ME Medicine). Konkrete Erfolge erzielten bis anfangs des 20. Jahrhunderts aber weniger die ärztliche Patientenbetreuung, sondern kollektive Massnahmen wie administrative Seuchenkontrolle, Impfkampagnen, Hebung des Lebensstandards, Verbesserung von Ernährung, Wohnen und öffentlicher Hygiene (WE Medicine) (1).
Im letzten Jahrhundert erweiterten naturwissenschaftliche und empirisch kontrollierte Erkenntnisse unsere diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten enorm.
Seit der Jahrtausendwende sind gentechnologische Innovationen dazugekommen. Dank dem Human Genome Project haben sich neue Erkenntnisse über genetische und nicht genetische Einflussfaktoren bei Gesundheit und Krankheit und eine bessere Einschätzung der Rolle der Epigenetik für Genotyp und Phänotyp ergeben. Sie weisen auf eine grosse Diversität hin – sind wir doch alle Mutanten (2). Sie sollen nun in die individuelle Diagnostik und in einen Therapieplan eingebaut werden (Precision Medicine, «Medizin nach Mass»). Bezüglich Umsetzung stehen wir erst am Anfang.
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Die Mängel des herkömmlichen Modells sind systembedingt, schmälerten aber die Verkäufe dank flächendeckendem, aggressivem Marketing bisher kaum. Dementsprechend übersteigt der Aufwand von internationalen Pharmafirmen für Marketing und Administration den für Forschung und Entwicklung ausgewiesenen bei weitem (1,4).
Das herkömmliche Blockbuster-Modell scheint in absehbarer Frist ausgereizt zu sein. Die firmeneigene und akquirierte Innovationskraft lahmt, die Pipeline für ähnlich konzipierte Mittel droht in absehbarer Zeit auszutrocknen. Einer breiteren Öffentlichkeit wird allmählich bewusst, dass dem Patienten, den sozialen Institutionen und dem Staat während Jahren skandalös viel Geld abgeknöpft worden ist. Eine engmaschigere Regulierung ist die Folge. Die Kriegskassen von Big Pharma sind gut gefüllt und nehmen zusammen mit verwandten neue Investitionsfelder unter der Flagge «Personalized Medicine» PM ins Visier.
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- Es folgt Teil 2: «Neues Modell: One Patient, One Drug?»
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Quellen:
1. Donna Dickenson (Prof. em. of Medical Ethics, University of London), ME Medicine vs. WE Medicine, Reclaiming Biotechnology for the Common Good, Columbia University Press 2013
2. Urs A. Meyer (Prof. em. Biozentrum Basel), Personalized Medicine: A Personal View, Clinical Pharmacology & Therapeutics
(Perspectives), Vol. 51, No, 5, March 2012, 373-375
3. Google-Search vom 22.12.15 (www.pmlive.com/top_pharma_list/global_revenues
4. Marcia Angell (former Chief Editor of the New Engl J of Medicine), The Truth about Drug Companies, How they deceive us and what to do about it, Random House Trade Paperbacks, New York 2004,2005; deutsch: Der Pharma-Bluff, Wie innovativ die Pillenindustrie wirklich ist, KomPart-Verlag
5. Peter C. Gøtzsche (Prof. für Forschungsdesign und Forschungsanalyse der Universität Kopenhagen und Leiter des Nordic Cochrane Centers), Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has corrupted healthcare, Radcliffe Publ. Ltd. 2013; dtsch. Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität – wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert, Riva-Verlag 2013
6. Peter J. Meier- Abt (Prof. Dr. med. Uni Basel, Präsident der SAMW), Informationsforum Zukunft der Medizin – Behandlung nach Mass, Bessere Arzneimittel, gezieltere Arzneimittel, sicherere Arzneimittel, kostengünstigere Therapien, Basel 20. Mai 2010
7. Antoine de Torrenté und Klaus Neftel, Dr. Knock im 21. Jahrhundert: wie Johnnie Walker «still going strong», «Disease mongering» and Skrabaneks «septicemia», Schweiz. Medizin Forum 2006; 6:1021-1022
8. Christopher Lane, Shyness, How Normal Behavior Became a Sickness, Amer J. of Psychiatry, October 1991
9. Anne Eckhardt (risicare GmbH), Alexander A. Navarini, Alecs Recher, Klaus Peter Rippe, Bernhard Rütsche, Harry Telser et al., Personalisierte Medizin, 2014 vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich (Publikation von TA Swiss, Zentrum für Technologiefolgenabschätzung) ISBN 978-3-7281-3591-9
10. Rainer M. Kaelin, Instrumentalisierung ärztlicher Experten, Schweizerische Ärztezeitung 2015; 96 (18): 663-665
11. Thomas Cueni (Replik Interpharma), Ein unvollständiges und unausgewogenes Bild, Schweizerische Ärztezeitung 2015; 96 (18), 666-667
12. Marcia Angell, Drug Companies & Doctors, A Story of Corruption, The New York Review of Books, January 19, 2009
13. Emilio La Rosa, Les vendeurs de maladies, Comment l’industrie pharmaceutique prospère en nous manipulant, Fayard Paris 2011
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor ist Facharzt für Innere Medizin in Wädenswil ZH.
Et c’est pourtant tellement vrai…