«Kantonsarzt Kistler hätte Tote vermeiden können»
upg. Ruth Dreifuss hat die Uno aufgerufen, mit der weltweiten Repression der Drogenabhängigen aufzuhören und deren Menschenrechte zu wahren (Teil 1). Der Allgemeinpraktiker André Seidenberg war ein Pionier in der Schweizer Drogenpolitik und massgebend daran beteiligt, dass das Verbot der Spritzenabgabe aufgehoben, eine breite Versorgung mit Methadonbehandlungen aufgebaut und Versuche mit der kontrollierten Abgabe von Heroin eingeleitet wurden, um die Süchtigen vom Schwarzmarkt abzuhalten und vor HIV und andern Krankheiten zu schützen. Rund 3000 Heroinabhängige waren bei Seidenberg in Behandlung.
Im Gespräch mit Klaus Vieli ruft Seidenberg die vielen Hürden in Erinnerung und bedauert, dass die Drogenpolitik auf halbem Weg stehen geblieben ist.
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GESPRÄCH MIT ARZT ANDRÉ SEIDENBERG
Vieli: Du sagst, Drogenpolitik sei für dich kein Thema mehr. Höre ich da auch Resignation heraus, oder hattest du deine drogenpolitischen Ziele erreicht als der Staat vom totalen Krieg gegen Drogen und Drögeler auf das sogenannte Viersäulenmodell umschwenkte mit Prävention, Schadensminderung, Therapie und Repression?
Seidenberg: Ich werde oft gelobt ich hätte soviel erreicht. Ich selber sehe das nicht so. Damals hatte ich das Gefühl ich sei gescheitert. Wir erreichten zwar, dass der Staat die versuchsweise Abgabe von Heroin an Süchtige ermöglichte. Aber ich wollte auch Kokain und andere Drogen im Rahmen des Medizinalsystems verschreiben können und so alle illegalen Drogenmärkte austrocknen. Insofern habe ich resigniert und eine Weile ist es mir ganz mies gegangen.
Als du anfingst hatte Zürich eine extrem repressive Drogenpolitik. Schlimm war, dass der damalige Kantonsarzt Gonzague Kistler die Abgabe von sauberen Spritzen verhinderte, worauf sich der HIV Virus explosionsartig unter den Fixern ausbreitete.
Angefangen hatte es, als mein Arztkollege Andreas Rose und ich in den Notschlafstellen gratis Notsprechstunden abhielten. Dort sahen wir, wie Spritzen unter den Heroinkonsumenten rumgereicht wurden wie Joints. Gleichzeitig wurde in Medizinerkreisen Aids bekannt, die ersten Tests des HIV-Virus wurden möglich und die Übertragung durch Spritzen wurde als wichtige Ursache erkannt.
Da haben wir begonnen saubere Spritzen zu verteilen. Worauf der Kantonsarzt uns mitteilte, das sei verboten. Als wir ihn höflich fragten, auf was er dieses Verbot stütze, wir sähen weder gesetzliche noch medizinische Gründe dafür, schickte er uns bloss kommentarlos die Heilmittelverordnung. Dort findet sich aber kein Wort, dass dieses Verbot stützen würde.
Eines der menschenverachtendsten Kapitel des Drogenkriegs begann.
Ja, als ich so bei ihm nachfragte, wurde ich auf das Unflätigste von ihm zurechtgewiesen. Ich ging daraufhin mit dem Konflikt zur Ärztegesellschaft. Die lud ihn ein Stellung zu nehmen, was er verweigerte. Jetzt kam die juristische Auseinandersetzung ins Rollen. Kantonsarzt Kistler wollte mit die Praxisbewilligung entziehen und verbot mir Methadon abzugeben. Ich musste mich für meine Patienten und meine Berufstätigkeit wehren, ging an die Öffentlichkeit und ein juristischer Hickhack mit insgesamt zwanzig Prozessen kam ins Rollen.
Hatte nicht auch die Zürcher Stadträtin und Sozialvorsteherin Emilie Lieberherr die Abgabe von sauberen Spritzen verboten?
Doch. Die Notschlafstellen waren in ihrem Amtsbereich. Dank einem glücklichen Umstand konnte ich mit ihr persönlich reden. Sie interessierte sich wahnsinnig für unsere Erfahrungen und hörte intensiv zu. Daraufhin änderte sie ihre Meinung und ihre Politik und setzte sich ab dann auch für die Abgabe sauberer Spritzen ein.
Der ganze Konflikt war ja nicht ruckzuck erledigt sondern zog sich hin, während immer mehr Fixer sich mit Aids ansteckten. Die Schweiz hatte Mitte der 80er Jahre die höchste HIV Ansteckungsrate in ganz Europa.
Kistler war hätte höchstwahrscheinlich viele Todesfälle vermeiden können. Das hat ihn fast den Job gekostet und er ging so bald möglich in Pension. [Am 4. Februar 2013 ist er gestorben. Red.]
Die Abgabe von sauberen Spritzen war wichtig, aber das Drogenelend in Zürich nahm weiter zu. Du warst als Arzt unvermindert gefordert.
Ja, ich hatte eine Allgemeinpraxis und daneben, quasi als ‚Hobby’ in der Freizeit betreute ich Kranke in der Drogenszene, zum Teil auch im Containerdorf von Pfarrer Sieber. Die Drogenszene hatte sich seit den siebziger Jahren entwickelt und wurde mal hier mal dort sichtbar. Zuerst an der Riviera, dann beim Bellevue, auch mal an der Seepromenade und mehrfach am Hirschenplatz.
Die Polizei griff immer ein, wenn sie sah, dass sie sich irgendwo festsetzte. Und nach jeder Vertreibung wuchs die Drogenszene. Damals gab es keine Handys und viel mehr Sozialkontrolle in der Stadt. Die Repression war auch aus polizeilicher Sicht mühsam, personalaufwendig und letztlich nicht erfolgreich. So kam es zum polizeitaktischen Beschluss, nicht mehr einzugreifen als sich die Drögeler ab 1987 mehr und mehr auf dem Platzspitz trafen. Dort wurde die Not der Drogenabhängigen immer sichtbarer und wir begannen direkt vor Ort mit medizinischer Versorgung und der Spritzenabgabe, jetzt unterstützt vom Roten Kreuz und von der Vereinigung Unabhängiger Ärztinnen und Ärzte.
Wahrscheinlich hat die Polizei die gewaltige Sogwirkung der offenen Drogenszene im Platzspitz unterschätzt, als sie den Entscheid fällte, dort nicht mehr einzugreifen und nicht mehr präsent zu sein.
Jeder Heroinabhängige aus der Schweiz und aus ganz Süddeutschland ging sich sicher irgendwann mal die Szene am Platzspitz anschauen. Im Schnitt waren so 2000 Süchtige dort, die sich drei mal pro Tag eine Spritze setzten. Macht rund 6000 Schüsse pro Tag.
War diese Konzentration im Zentrum Zürichs, wo auch Passanten die krasse Not und auch die Hilflosigkeit der Polizei sehen konnten, hilfreich für die weitere Entwicklung einer neuen Drogenpolitik weg von der reinen Repression?
Zuerst wollte die Polizei uns die Überlebenshilfe auf dem Platzspitz noch verbieten. Aber je mehr sich zeigte, dass die Repression den Drogenkonsum nicht beseitigen konnte, begann auch bei der Polizei ein Umdenken. Und im Stadtrat führte Emilie Lieberherr mit ihren Kollegen offensichtlich sachliche Diskussionen.
Jetzt kam die Diskussion über die medizinische Abgabe von Drogen und Ersatzdrogen in Fahrt. In Zürich entwickelte sich das Viersäulenmodell.
In der Öffentlichkeit wird nur die Politschiene wahrgenommen. Zuerst gab es aber intensivste Diskussionen in der Ärzteschaft. De facto gab es bis 1987 nur rund 300 Methadonbehandlungen. Das waren hochgradige Ausnahmefälle. Ein einziger Arzt konnte die Bewilligung für eine Methadonbehandlung geben, ein Oberarzt von Professor Ambros Uchtenhagen, der heute als grosser Vorreiter einer vernünftigen Drogenpolitik gefeiert wird. Damals war er einer der übelsten Bremser. Er war gegen die Spritzenabgabe. Infizierte Spritzen hatten damals zu vielen Aids-Totesfällen geführt.
Dann hatte er die Idee, man könnte doch als Zugeständnis jedem Fixer einmal in der Woche eine Spritze abgeben, mit Ausweis und gegen einen Stempel. Wir hatten als Ärzte in einer Praxis keine vernünftigen Möglichkeiten, die Patienten so zu behandeln, wie man es eigentlich müsste.
Ich hab mich dann selber schlau gemacht um zu erfahren, was damals wissenschaftlich erwiesen war. Uchtenhagen hatte gegen die wissenschaftlich bereits vorhandenen Erkenntnisse eine Repressions- und Abstinenzideologie durchgezogen. Und das war für mich ein objektiver Hebel. In der Medizin gilt der wissenschaftliche Nachweis des Nutzens und des Nachteils von Therapien, und dann entscheidet man rational. So fielen schliesslich die schikanösen Restriktionen zur Abgabe von Methadon.
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Es folgt ein dritter Teil: Wie es zur ärztlichen Abgabe von Heroin kam.
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Das Gespräch ist im R.E.S.P.E.C.T. erschienen.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor hat als Journalist die Drogenpolitik lange Zeit verfolgt.