Handeln wie nach einem Flugzeug-Absturz
Nach einem Flugzeugabsturz überbieten sich die Schlagzeilen. Ursachen werden sorgfältig untersucht und Sicherheitsvorkehrungen verstärkt. Solche Ereignisse nehmen wir als grössere Gefahr wahr als Risiken, die ihre Opfer «nur» im Laufe der Zeit fordern wie in Spitälern und Arztpraxen. Doch jedes Jahr sterben rund 5000 Menschen wegen eines Fehlers in einem Akutspital. Dazu kommen über 120’000 Patienten, die im Spital einen gesundheitlichen Schaden erleiden, nochmals operiert oder nachbehandelt werden müssen.
«Die Hälfte der Schäden wäre vermeidbar»
Schuld an dieser hohen Opferzahl sind
- Infektionen, die man im Spital aufliest,
- Behandlungsfehler,
- unzweckmässige Medikation,
- falsche oder verspätete Diagnosen sowie
- Fehler in der Pflege.
Den Ernst der Lage fasst das Bundesamt für Gesundheit BAG wie folgt zusammen: «Jeder zehnte Spitalpatient erleidet einen gesundheitlichen Schaden und die Hälfte dieser Schäden wäre vermeidbar.»
- Das sind 2000 bis 3000 vermeidbare Todesfälle und
- rund 60’000 vermeidbare Schadensfälle pro Jahr.
Trotz dieser vielen Opfer gibt es keine Schlagzeilen, keinen öffentlichen Druck. Deshalb tun Politiker, Behörden und Spitalverantwortliche zu wenig, um die Sicherheit zu verbessern.
Risiken auch ausserhalb der Spitäler
Zu weiteren Schäden kommt es in Arztpraxen oder Pflegeheimen. An fünf von hundert Spitaleinweisungen sind falsch verschriebene Medikamente schuld. Abrechnungen von Krankenkassen zeigen, dass
- 150’000 Patienten mehr als zwanzig Medikamente gleichzeitig einnehmen;
- Über 5000 von ihnen sterben jährlich an einem gefährlichen Arzneimix;
Das schätzt Gerd Kullak, Professor für klinische Pharmakologie am Universitätsspital Zürich.
Nicht immer bestimmt das effektive Leiden, welche Untersuchungen, Diagnosen und Behandlungen folgen, sondern die zufällige Wahl des Arztes. Mit dem gleichen Hautleiden ging eine Tessiner Patientin der Konsumentenzeitschrift «Scelgo Io» nacheinander zu zehn dortigen Dermatologen: Drei haben Schuppen untersucht, zwei Blut- und Allergietests gemacht, einer hat einen Pilz diagnostiziert und eine Pilzsalbe verschrieben, einer hat eine Narbensalbe verschrieben und vier andere eine befeuchtende Crème. Ein weiterer hat zusätzlich ein Eisenpräparat verordnet.
In einem Operationssaal landen Patienten häufiger, wenn viele Arztpraxen mit Chirurgen in der Nähe sind. Tessiner wurden vergleichsweise selten am Herzen operiert. Seit aber Kardiologen und Herzchirurgen 1999 ein Herzzentrum eröffneten, sind Eingriffe am Herzen – mit all ihren Risiken – im Tessin viel häufiger als in den meisten andern Kantonen – ohne einen erwiesenen Nutzen.
Die Konzentration von Ärzten am Wohnort beeinflusst auch andere Eingriffe: Im Kanton Fribourg haben fast doppelt so viele 60-jährige Frauen keine Gebärmutter mehr wie im Kanton Graubünden.
«Kaum ein gleichwertiges Gesundheitssystem»
Unser Land leistet sich die teuerste Gesundheitsversorgung Europas, aber nicht die beste. Wer daran verdient, verbreitet aus dem hohlen Bauch heraus, die Schweiz sei Spitze. Die Zürcher Chefärzte-Gesellschaft rechtfertigte die hohen Kosten mit «einem der besten, wenn nicht dem besten Gesundheitssystem der Welt». Sie meinten wohl das Angebot: Laut OECD gibt es bei uns pro Einwohner ein Viertel mehr berufstätige Ärzte als in andern Industrieländern, sogar viermal mehr Akutspitäler als in Holland und einen Rekord an hochtechnischen Apparaten wie MRI, CT u.a.
Patienten sollen vertrauen
Wer in der Schweiz einen Herzschrittmacher, eine Hüft- und Knieprothese oder Brustimplantate erhält, muss viel Vertrauen haben. Anders als bei Medikamenten braucht es für Implantate keine Zulassung, sondern nur ein CE-Siegel für «gute Herstellung». Ob sich Implantate am Patienten bewähren, zeigt sich erst, nachdem Chirurgen sie eingesetzt haben.
- Entstehende Komplikationen werden nicht etwa obligatorisch zentral erfasst.
Viel zu häufig kommt es vor, dass künstliche Gelenke, Stents oder Herzkatheter, die sich nicht bewähren oder gar zu Todesfällen führen, viel zu spät aus dem Verkehr gezogen werden.
Ärzte verdienen an unnötigen Behandlungen
Patientinnen und Patienten interessiert nur eines: Wie rasch und dauerhaft werden sie wieder gesund, oder wie gut bekommen sie ihre chronischen Krankheiten in den Griff. Die meisten Ärzte tun ihr Bestes, doch ihre Einkommen hängen davon ab, wie häufig sie Untersuchungen machen lassen, behandeln und operieren. Überflüssige Diagnosetests, unnötige Behandlungen und sogar vermeidbare Komplikation erhöhen den Kontostand der Ärzte. Umgekehrt kommen gute Ärzte, die nur das Sinnvolle machen und damit Erfolg haben, finanziell schlecht weg.
In den meisten andern Ländern hängt das Einkommen der Ärzte mit Praxen und das Einkommen der Belegärzte nicht von der Zahl der Untersuchungen und Operationen ab, sondern sie sind nach ihrer Präsenzzeit bezahlt. Am Aufklären einer Patientin über Nutzen und Risiken eines Eingriffs verdienen sie gleich viel wie am Operieren.
Spitäler an vielen Operationen interessiert
Die falschen Anreize in der Schweiz bleiben bei uns tabu, auch bei den Spitälern. Deren Ertragsrechnung sieht besser aus, wenn sie kompliziertere Diagnosen stellen als nötig, wenn sie aufwändiger behandeln und eilig oder voreilig operieren statt abwarten. Und weil Fallpauschalen nur die Kosten während des Spitalaufenthalts decken, haben die Spitäler kein Interesse daran, das Genesen der Patienten nach Austritt weiter zu verfolgen. Deshalb wird nicht transparent, welche Spitäler ihre Patienten am besten behandeln.
Anders in den Niederlanden: Dort umfassen die Fallpauschalen alle Kosten – auch nach dem Spitalaustritt – bis zur endgültigen Genesung. Die dortigen Spitäler haben ein Interesse daran, dass ihre Patienten bald wieder fit sind. Sie kümmern sich um die beste Nachbehandlung oder die beste Reha. Die endgültigen Behandlungsresultate werden erfasst und verglichen.
Solche Patientendaten besitzt in der Schweiz nur die Suva. Sie könnte ohne weiteres bekannt machen, welche Behandlungsteams in welchen Spitälern die Unfallpatienten am erfolgreichsten behandeln. Doch aus politischer Rücksicht wertet die Suva ihre Zahlen nicht aus. Sie habe «keinen Auftrag des Gesetzgebers», redet sie sich heraus.
Die unterschiedlichen Anreizsysteme sind ein Grund, weshalb es in Holland im Verhältnis zur Bevölkerung nur ein Viertel so viele Spitäler braucht wie in der Schweiz. Holländerinnen und Holländer müssen weniger häufig ins Spital, werden seltener operiert und gehen entsprechend weniger Risiken ein. Lebenserwartung und Gesundheitszustand vergleichbarer sozialen Schichten sind identisch.
Schweiz schlechter als Nachbarländer
In der Schweiz kommt es zu vielen Überbehandlungen ohne Nutzen. Und während ihrer Zeit im Spital sind Patientinnen und Patienten grösseren Risiken ausgesetzt. Operationen enden in der Schweiz häufiger mit dem Tod als in Holland, Schweden und Finnland. Das zeigt jedenfalls die grösste je durchgeführte Vergleichsstudie, welche die medizinischen Fachzeitschrift «Lancet» 2012 veröffentlichte.
Bei uns kommt es auch häufiger zu Infektionen als in Holland, Deutschland oder Frankreich. Jedes Jahr könnte man rund 600 Todesfälle und 15’000 Infektionserkrankungen vermeiden, wenn in Operationssälen minimale hygienische Standards eingehalten würden. Das ging aus einer Erhebung von Swissnoso hervor, einer Gruppe von leitenden Hygiene- und Infektionsspezialisten. Bei den insgesamt rund 9700 jährlichen Darmoperationen käme es zu fast 400 Infektionen weniger, wenn die Behandlungsqualität in der Schweiz so gut wäre wie in Deutschland, und sogar zu fast 500 weniger, wenn die Qualität auf dem Niveau französischer Spitäler wäre. Bei diesen Werten handle es sich um eine «robuste statistische Aussage», erklärte Swissnoso im Jahr 2013.
Versagen der Bundesbehörden
Das Risiko für Infektionen, für ungeplante Nachbehandlungen oder Medikamentenfehler kann im einen Spital fünfmal grösser sein als in einem andern, doch wir wissen nicht in welchem. Denn Behandlungsresultate werden noch immer nicht vergleichbar erhoben.
Umfassende Daten über Behandlungsergebnisse sollten längst im Internet zugänglich sein. Das Krankenversicherungsgesetz KVG gab dem Bundesrat 1996 die Kompetenz, «systematische wissenschaftliche Kontrollen zur Sicherung der Qualität» durchzuführen. Um solche Kontrollen überhaupt zu ermöglichen, hätte der Bundesrat einheitlich erfasste Daten über die Behandlungsergebnisse einfordern müssen. Seit 2009 sind die Spitäler sogar verpflichtet, Statistiken zur Überwachung der Qualität zu liefern.
Doch trotz rund 2’000 bis 3’000 Menschen, die jedes Jahr in einem Akutspital wegen eines vermeidbaren Fehlers sterben, und trotz mindestens 60’000 Behandelten, die jedes Jahr einen vermeidbaren gesundheitlichen Schaden erleiden, hatte der Bundesrat nicht den Mut, sich gegen die Lobbys der Spitäler und Ärzte durchzusetzen und vergleichbare Daten zu verlangen.
Erst seit kurzem fängt er halbherzig damit an. Erst im laufenden Jahr, reichlich spät, will das BAG zusammen mit Swissnoso ein nationales Qualitätsprogramm starten, um die Zahl der Wundinfektionen «wesentlich und nachhaltig zu senken». Das kündigte Manfred Langenegger an, der im BAG für die Qualitätssicherung zuständig ist.
Ein regulierter Wettbewerb wie in Holland würde die Qualität schneller verbessern. Dazu müssten die Kassen über die Vertragsfreiheit verfügen.
Nicht einmal vergleichbare Fallzahlen
Wenn Chirurgen und Spitalteams eine bestimmte Operation nur selten durchführen und zu wenig Übung haben, kann dies zu Nachoperationen, Nachblutungen, Wundinfektionen oder im schlimmsten Fall zum Tod führen. Bereits vor Jahren stellte das «British Medical Journal» fest, dass es für etliche Operationen nicht nur einen «Chirurgen, der viel operiert», sondern auch ein «Spital, das viel operiert» brauche, um Risiken zu verringern.
Dass die Fallzahlen die Qualität beeinflussen, ist laut Jan Maarten van den Berg vom niederländischen Gesundheitsinspektorat, das den Erfolg von Operationen überwacht, spätestens seit den 90-er Jahren bekannt. Er überwacht den Erfolg von Operationen in Hollands Spitälern. Für Chirurgen und Spitalteams gelte die Regel «Übung macht den Meister».
- In Holland müssen Krankenkassen Operationen nicht zahlen, wenn sie ein Spital zu selten durchführt. Das war ein wirksamer Anreiz für die Spitäler, sich zu spezialisieren.
In der Schweiz verlangte der Bundesrat bisher nicht einmal, dass die Zahl der Operationen pro Spital erhoben wird. Das BAG verglich bisher Äpfel mit Birnen, nämlich die Fallzahlen einzelner Spitäler mit denen ganzer Spitalgruppen.
Die veröffentlichten Zahlen sind trotzdem alarmierend genug. Zwei Beispiele:
Entfernen der Bauchspeicheldrüse: In der Deutschschweiz führten 19 Spitäler oder Spitalgruppen diesen heiklen Eingriff im Jahr 2012 weniger als zehnmal durch. Insgesamt verteilten sich 700 Operationen auf über 50 Spitäler.
Teilweise oder ganze Entfernung der Schilddrüse: Diese Operation birgt das Risiko der Verletzung eines oder beider Nerven des Stimmbandes. Je nach Spital kann das Risiko 1:50 oder 1:200 sein, wie ausländische Zahlen zeigen. Im Jahr 2012 führten 38 Spitäler diese Operation weniger als zehnmal pro Jahr durch. Insgesamt verteilten sich 3400 Operationen auf 98 Spitäler.
Diese Zahlen haben sich im Jahr 2013 nur ganz wenig verändert.
Null-Toleranz
Vor bald acht Jahren startete Schottland ein nationales Programm, um «alle vermeidbaren Ärzte- und Spitalfehler auszurotten». Bis 2015 sollen nur noch fünf von 100 Patienten im Spital zu Schaden kommen – halb so viele wie in der Schweiz.
Während Schottland und andere Länder die beste Qualität anstreben, streitet man bei uns vor allem um die Kosten. Doch Spitäler, Ärzte und Behörden sollten endlich nicht mehr tolerieren, dass es bei Behandlungen zu so vielen vermeidbare Verletzten und Todesfällen kommt. Wie nach Abstürzen von Flugzeugen muss aus Fehlern gelernt werden. Lediglich freiwillige und unkontrollierte Datenerhebungen, Rücksichtsnahmen und Verschweigen unter dem Deckmantel des Datenschutzes sind verantwortungslos.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Ich hatte in Italien eine Schädeloperation zur Entfernung eines subduralen Haematoms. Die Operation verlief gut. Etwa ein Jahr danach reiste ich in die Schweiz. Nach meiner Ankunft stellte ich fest, dass ich in der Nähe der Operationsnarbe eine kleine eitrige Verletzung hatte. Ich ging in die Notfallstation. Man äusserte den Verdacht, dass die Wunde mit dem Schädelinneren in Verbindung stehen könnte. Dann folgten Computer-Tomogramme, mikrobiologische Tests ohne Ende, Schädeloperation, Fortsetzung der Antibiotika-Therapie, nach 10 Tagen die Entlassung mit einem Antibiotika-Vorrat für einen Monat. Ich reiste nach Italien zurück und informierte meinen Chirurgen. Der meinte: „Da hat man Ihre Krankenkasse aber richtig ausgenommen!“ Auf meine verwirrte Nachfrage bemerkte er bloss: „Wenn Ihre eitrige äussere Verletzung mit dem Schädelinneren in Verbindung gestanden hätte, hätten Sie hohes Fieber gehabt, nach dem ärztlichen Bericht hatten Sie aber nie Fieber. Diese Operation war nur für das Spital nützlich. Ihnen brachte es bloss Leiden und eine Schwächung ihres 80-jährigen Körpers. Gehen Sie zur Rehabilitation in ein Thermalbad und machen Sie eine Physiotherapie. Wie hoch war die Rechnung des Spitals?“ „ Etwas über CHF 55’000…“
Suizidgefahr durch Antidepressiva – nichts neues.
https://www.youtube.com/watch?v=RFFmSnyoXpc
Kürzlich habe ich einen Arzt gefragt, wie er zur Sterbehilfe steht.
Ich würde es nicht tun, weil Richter unabhängig sind, hat er gemeint.
Warum er dann mit Gefälligkeitsgutachten für Versicherungen den Tod des Probanden in Kauf nimmt, habe ich gemeint.
Das hab ich am eigenen Leib erfahren. Wegen falscher, 3 Untersuchungen über 6 Monate ohne Resultat, verspäteter Diagnose, erst beim 4. Notfalleintritt erkannt und anschliessendes, mehrtägiges herausschieben der OP, wäre ich beinahe in die Statistik eingegangen. Hier ist dringend Handlungsbedarf. Sind die Operationsstatistiken (Fallzahlen) pro Spital öffentlich zugänglich?
Ein Sozialmediziner erhält pro Gutachten ca. 200,00 Euro nach Aktenlage, der Gutachter einer Privatversicherung entsprechend mehr.
Dafür wird der Tod des Probanden in Kauf genommen.