Sprachlupe: Ein Lehrmittel für weniger Rotstift

Daniel Goldstein /  Päckli, Bigeli, Nidel, Rahm, Sahne – welche Wörter sollen Lehrkräfte im Aufsatz gelten lassen? Ein neues Lehrmittel zeigt den Weg.

Liebe Kinder, ihr bekommt ein Päckli, das zum Auspacken ein paar Jahre braucht. Dafür habt ihr dann in der Primarschule die Chance, dass das Wörtlein «Päckli» in einem Aufsatz nicht mehr rot angestrichen wird, wie es scheint’s heute oft passiert. Aber dann nicht mehr, wenn eure Lehrperson den neuen Kurs dazu besucht hat – ihr wisst schon, gemeint ist eure Lehrerin, aber es könnte ja auch ein Lehrer sein.
Das schweizerische Wort «Päckli» steht nicht im Duden «Rechtschreibung», dagegen gemeinerweise das österreichische «Packerl» mit der Erklärung «Päckchen». Mit dieser Bedeutung steht «Päckli» im kleinen Duden «Schweizerhochdeutsch», und dazu auch noch als Ausdruck für «geheime, verdächtige Abmachung». Das Wort ist also ein Helvetismus – ein nur oder vor allem in der Schweiz gebräuchliches Stück Hochdeutsch. Manche Helvetismen stehen auch im «richtigen» Duden, von «Abdankung» für Trauerfeier bis «Zwetschge». Die Hauptform soll «Zwetsche» sein, aber die ist nur in Norddeutschland üblich.
Was Lehrkräfte lernen
Für den Umgang mit Helvetismen gibt es jetzt eben den Kurs, der den Rotstift und eure Nerven schont. Die Studentin Livia Fricker hat in Basel das Lehrmittel dazu ausgearbeitet, für ihren Abschluss mit dem Mastertitel, und sie stellt es in der Zeitschrift «Sprachspiegel» gleich selber vor. Pädagogische Hochschulen können es bestellen und den künftigen Lehrkräften anbieten oder gar vorschreiben. Die lernen daraus, dass Helvetismen keine Fehler sind, sondern zum Hochdeutsch gehören. Und dass es nicht nur ein einziges Hochdeutsch gibt, jenes aus Deutschland, sondern verschiedene Spielarten, so die schweizerische und die österreichische. Varietäten heissen sie in der Fachsprache, und zusammen bilden sie die deutsche Standardsprache, quasi eine Auswahlsendung.
Hoffentlich wird der Kurs auch als Weiterbildung angeboten – für jene, die bereits Schule geben. Dann müsst ihr Schulkinder weniger lang darauf warten, dass der Rotstift seltener einfährt. Wer den Kurs macht, bekommt auch Wörterlisten zum Ankreuzen und Ausfüllen, was man korrigieren soll und was nicht. Oft gibt es nicht bloss eine richtige Lösung, sondern eine Auswahl. Zum Beispiel ist der Erdapfel österreichisch, also nicht falsch, aber in der Schweiz sagt man wie in den meisten deutschen Gegenden Kartoffel. Umgekehrt ist die (nord-)deutsche Sahne bei uns eher Rahm, wenn nicht gar Nidel.
An die Tante in Graz
Aber aufgepassst: «Nidel» steht zwar – leider ohne die Berner Variante «Nidle» – im Duden «Schweizerhochdeutsch», jedoch mit der Bemerkung «mundartnah». Das steht auch bei «Päckli», «Anken» und vielen anderen Wörtern. Frau Fricker ist dafür, diese in der Primarschule gelten zu lassen. Aber andere Dialektwörter nicht, weil sie in keinem Standardwörterbuch stehen (es gibt auch dickere als «Schweizerhochdeutsch»). Diese Wörter gelten als rein mundartlich. Also soll zum Beispiel «Bigeli» korrigiert werden, zu «Beige» oder «Stapel», wenn nötig mit dem Zusatz «klein».
Wenn ihr aber der Tante in Graz oder dem Onkel in Hannover einen Brief schreibt, müsst ihr auch mit mundartnahen (oder im Duden «mundartlichen») Wörtern vorsichtig sein: Vielleicht werden sie nicht verstanden. Ihr könnt es auch darauf ankommen lassen. Dann fragen die Empfänger vielleicht, was für ein Ding denn der Anken sei. Manche Wörter können sie gut erraten, wenn ihr etwa schreibt, dass ihr mit dem Bodenlumpen bei der Putzete nach dem Fest geholfen habt. Dass es ums Saubermachen geht, ist leicht zu merken, und unter einem Bodenlumpen kann man sich auch etwas vorstellen. Aber es gibt keinen überall gebräuchlichen Ausdruck für das «Tuch, mit dem Böden nass gereinigt werden»; jedenfalls steht im dicken «Variantenwörterbuch des Deutschen» keiner, dafür eine ganze Reihe regionaler Wörter; sie kommen bald in einer neuen «Sprachlupe» vor. In einem Aufsatz «Bodenlumpen» zu korrigieren, wäre also schwer – und blöd sowieso.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlupe»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Soeben hat er auf seiner Website Sprachhäppchen als E-Buch publiziert.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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Eine Meinung zu

  • am 24.12.2016 um 23:36 Uhr
    Permalink

    Es ist zwar kein «Rotstift"-Fall, passt aber zum Thema: Nicht nur Lehrpersonen und Schulkinder kommen in Nöte; auch professionelle Simultan-Dolmetscher geraten ins Schleudern (allerdings nicht unbedingt ins Schwitzen) mit regionalen sprachlichen Besonderheiten. Dazu ein von mir miterlebtes und mitgehörtes Beispiel in den 1995er Jahren. Anlass: Sitzung in Brüssel CEN/TC 207 (TC = technisches Komitee), Bereich Möbel. Es geht um sicherheitstechnische Anforderungen an «Einlegeböden» – in der Schweiz und im Süden Deutschlands «Tablar» genannt. [ Einlegeboden nach Duden: < waagerecht in einen Schrank o. Ä. einzulegendes Brett, das als Ablagefläche dient > ]. Der (nord-)deutsche Sprecher hat von «Einlegeböden"» geredet, was der Simultan-Dolmetscher D > F – offensichtlich kein Kenner der Schreiner- oder Möbelbranche – übersetzte mit «Parkettboden mit Einlege-Arbeiten (Intarsien)». Leider gab es dazu in den mündlichen Beratungen keinen «Rotstift», der dagegen eingegriffen hat.
    Ein gemeinsames Wörterbuch mit der Definition der Begriffe war zu diesem Zeitpunkt noch am Anfang der Bearbeitung. – CEN/TC 207 ‹Möbel› hat trotzdem bis heute überlebt.
    Peter Röthlin, 8123 Ebmatingen (ehem Mitglied in der CH-Vertretung im CEN/TC 207)

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