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Fällander Tagebuch 3 © zvg

Schwindel am Matterhorn

Jürgmeier /  10. Oktober 2016

Sie rief mich, damals, ganz aufgeregt an. Ob wir gestern tatsächlich auf dem Üetliberg gewesen? Dem Hausberg von Zürich. Der, je nach Ranking, schönstenliebenswertestenteuersten Stadt der Welt.
«Nein», sagte ich und verzichtete auf eine hinterhältige Pause, «vorgestern».
«Aber dann waren wir auf dem Üetliberg», suchte sie nach Gewissheit.
Ihr alterndes Gehirn hatte vor einiger Zeit begonnen, sie zu täuschen. Gelegentlich produzierten Augen&Kopf Dinge, von denen sie (noch) wusste – niemand sonst würde sie sehen. «Braun», gab sie auf meine Frage nach der Farbe des Pferdes auf dem Balkon gegenüber vor einigen Monaten zur Antwort. Zeitweise stellte sie im Fünfminutentakt dieselbe Frage.
«Ja, dann waren wir auf dem Üetliberg», bestätigte ich ihr nochmals.
«Schön», freute sie sich.
Sie hatte schon früher nur erinnert, was ihr passte. Wie es in der Wohnung ihrer Eltern aussah, zum Beispiel, konnte sie nie wirklich beschreiben, diejenige ihrer Grossmutter sah sie bis ins letzte Detail vor sich. Dass ich wenige Tage vor dem Tod meines Vaters, vor vielen Jahren, erklärt hatte, ich käme jetzt nie mehr, wusste sie, vermutlich, schon Stunden später nicht mehr oder hatte es gar nie geglaubt. Nachher war nicht die Zeit, den jedes Mal enttäuschten Hoffnungen – es käme ein anderer Sohn zur Türe herein, in den Polstern warteten andere Eltern, eine andere Mutter – ein definitives Ende zu bereiten. Aber das waren ganz gewöhnliche Verdrängungen, mit denen Psychoanalytiker*innen gutes Geld verdienen.
Jetzt war es jedes Mal ein kleiner Schock für sie, wenn ihr jemand sagte, sie hätten sich doch vor einer Woche im Stoller getroffen. Der es mit seinem patentierten «Frauentraum» aus Glacékugeln&Schlagrahm sogar einmal in die «Emma» geschafft hatte. Und sie hatte keine Ahnung davon.
Ihre Erinnerungen ankerten in längst vergangenen Zeiten. Die Gegenwart verblasste schneller als ein schlechtes Polaroidbild. Wenn ich ihr ankündigte «Bis nächste Woche», schien sie sich keinen Moment zu wundern, wenn ich mein Versprechen erst drei Wochen später einlöste.
Ich begann, ihre oft beklagte Einsamkeit mit erfundenen Besucher*nnen zu bevölkern. «Weisst du nicht mehr – am Sonntag waren doch Paula und Paul mit dir in der Sukkulentensammlung, anschliessend noch auf dem See.»
Daran könne sie sich nicht erinnern, murmelte sie – etwas verzweifelt.
«Das hast du mir selbst am Telefon erzählt.» Zerstreute ich ihre Bedenken. «Du fuhrst doch immer gern mit dem Schiff. Ich glaube, ihr wart auf der Panta Rhei.»
«Ja, die ist schön», freute sie sich, «aber schlimm ist, dass es so weit gekommen ist, mit mir.»
Ich erfüllte ihr Träume, die in ihrer Wirklichkeit Illusionen geblieben waren. Liess den Enkel – den sie nie gehabt hat – die Grossmutter regelmässig besuchen und mit ihr nachmittagelang Backgammon spielen. «Und du gewinnst immer. Der kommt jedes Mal heulend nach Hause.» Erzählte ich ihr lachend.
Ich liess, so wie sie es sich wünschte, wieder alles werden wie früher, nur besser. Und als ich sie letzthin daran erinnerte, ich sei doch mit ihr in Zermatt gewesen, erschrak sie nicht mehr. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass andere Geschichten erzählten, die ihr wie Märchen vorkamen.
Sie erkundigte sich nur, wie das Wetter gewesen. Freute sich über die «strahlende Sonne» und den «wolkenlosen Himmel». Wollte wissen, ob wir auch das Matterhorn gesehen?
«Natürlich, stundenlang», machte ich den Tag perfekt und fuhr sie in einer der neuen Matterhorn-Express-Gondeln zum Schwarzsee hinauf. Liess auf dem Hang – an dem im Winter die Gämsen die von der Sonne frei geschmolzenen Grasbüschel&Flechten abfressen – AlpenrosenTürkenbundMännertreu blühen, auf der Höhe von Aroleid die ersten Murmeltiere pfeifen. «Und dann hat dich der Inderbinen aufs Matterhorn mitgenommen.» Trieb ich mein Spiel weiter.
«Der ist aber auch nicht mehr der Jüngste.» Reklamierte die Neunzigjährige.
Und ich brummte etwas von «um die hundert, aber der kennt den Hörnligrat wie kein zweiter».
Ich weiss nicht, ob sie sich vor dem inneren Auge über die felsigen Kanten zum Gipfel kraxeln sah. Jedenfalls strahlte sie. «So schön, dass ich das noch erleben durfte. Und du – bist du auch mitgekommen?»
«Nein», gab ich zu, «ich habe in der Hörnlihütte auf euch gewartet und ein Buch gelesen. Ich hätte zu viel Angst gehabt.» Was so ziemlich das einzige an dieser Geschichte war, das stimmte.
Dann griff sie unvermittelt nach einem sicheren Stück ihres Erinnerungsschatzes: «Und der Krieg – ist der endlich zu Ende?»
«Schon lange», beruhigte ich sie.
«Und kein neuer Krieg?»
«Nein», flunkerte ich, «nirgends ein neuer Krieg.»
«Dann muss jetzt niemand mehr Angst haben?»
«Nein. Niemand auf der ganzen Welt.» Verhalf ich dem Frieden zum Sieg.
«Schön, dass ich das noch erleben darf.» Seufzte die, die mir in Zeiten des Protests gegen AusbeutungUngerechtigkeitGewalt den Satz «Wir kleinen Leute können eh nichts machen» um die Ohren geschlagen und die leise Hoffnung «vielleicht du» auferlegt hatte.
Jetzt hatte ich, längst müde geworden&gescheitert, den unmöglichen Auftrag doch noch erledigt. Wenigstens in ihrer kleinen Welt war Frieden.
Auch daran würde sie sich nicht erinnern.

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5 Meinungen

  • am 23.10.2016 um 12:18 Uhr
    Permalink

    Wunderbar geschrieben, sehr ehrlich, macht nachdenklich.
    Würde ich selbst das wollen? Dass mein Sohn mich so mit «Erinnerungen» bedient, wenn ich einmal dann vielleicht dement bin?
    Aus jetziger, prospektiv Sicht nicht.
    Aber dannzumal?
    Vielleicht?

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 24.10.2016 um 11:02 Uhr
    Permalink

    Als gelegentlicher Sprachstänkerer gegen Jürg Meier erlaube ich mir, mich dem Urteil von Frau Keberle anzuschliessen.

  • am 24.10.2016 um 21:55 Uhr
    Permalink

    Vom Effekt auf die alte Frau abgesehen, wift dieser Artikel und die darin zum Vorschein kommende Dreistheit und Bereitschaft zu lügen Fragen auf, wie sehr ich Ihren Artikeln noch Glauben schenken darf. Belügen Sie Ihre Leser auch derart dreist, um Ihre Interessen zu fördern?

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 24.10.2016 um 22:00 Uhr
    Permalink

    @Mäder. Über das Thema, wie Dichter und Schriftsteller lügen und mit der Lüge umgehehen, hat sich der Literat Peter von Matt tiefsinnig ausgelassen, das ist hier nicht zusammenzufassen. «Weh› dem der lügt!» heisst ein Drama von Grillparzer, noch moderner und bewegender aber ist «Jakob der Lügner» von Jureck Becker.

  • am 24.10.2016 um 22:03 Uhr
    Permalink

    @Meier: Dann habe ich den Artikel falsch verstanden. Vielen Dank für die Aufklärung und Entschuldigung an den Autor!

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