Kommentar
Wir brauchen keine Armee an der Grenze
Am traditionellen Medientreffen zum Jahresende in Adelboden gab Bundesrat Ueli Maurer bekannt, er wolle das Verteidigungsdepartement ersuchen, das Grenzwachtkorps mit 50 Armeeangehörigen zu verstärken. Es werde sich nicht um Soldaten mit dem Sturmgewehr handeln, sondern um Mitglieder der Militärpolizei, welche die Grenzwächter, die seinem Finanzdepartement angegliedert sind, unterstützen sollten. SVP und Lega dei Ticinesi begrüssen den Rückgriff auf die Armee, aber Maurers Begehren ist schwer nachvollziehbar. Dazu vier Bemerkungen.
Vom Notfall weit entfernt
Erstens: Im April des vergangenen Jahres haben Bund, Kantone und Gemeinden die Grundzüge der Notfallplanung im Asylbereich festgelegt. Der Bundesrat hat das Verteidigungsdepartement beauftragt, «alle nötigen Massnahmen zu treffen, damit die Armee bei Bedarf die zivilen Behörden, namentlich das Grenzwachtkorps (GWK), gemäss Notfallplanung unterstützen kann», liest man in der Medienmitteilung des Bundesrats vom 20. April 2016. Die Regierung sah damals keinen Bedarf für einen Einsatz der Armee, denn erst wenn innert weniger Tage 30’000 Personen die Grenze überträten, wären die Voraussetzungen erfüllt, die Armee zur Unterstützung einzusetzen. Würden in drei aufeinanderfolgenden Monaten je 10’000 Asylgesuche gestellt, müsste das Grenzwachtkorps einen Armeeeinsatz beantragen, sofern «erschwerende Faktoren wie z.B. eine Terrorbedrohung in erheblichem Ausmass dazu kämen». Solche Situationen seien bisher nie eingetreten, auch nicht während der Kosovokrise, als im Juni 1999 die Höchstzahl von 9600 Asylgesuchen erreicht wurde, stellte der Bundesrat fest. Zum Vergleich: Im November 2016 wurden 1963 Gesuche gestellt.
Zweitens: Bevor Militärpolizisten eingesetzt werden können, braucht es ein Gesuch des Verteidigungsdepartements. Danach müsste der Bundesrats im Rahmen der Vorgaben der Notfallplanung entscheiden. Sofern das Grenzwachtkorps generell überlastet wäre, müsste verlangt werden, den Bestand zu erhöhen. Bundesrat Maurer hätte bei der Behandlung einer Motion zum Thema Grenzwachtkorps im Ständerat während der Dezembersession 2016 Gelegenheit gehabt, eine Verstärkung des Grenzwachtkorps zu fordern; er hat jedoch gemäss Ratsprotokoll kein solches Begehren gestellt.
Kritik an Grenzwächtern
Drittens:Die Situation an der Grenze ist seit mehr als einem halben Jahr schwierig, denn viele Verfolgte versuchen die Schweiz zu durchqueren, um in andern Staaten Asyl zu beantragen. Sie werden – wie es das Dublin-Abkommen verlangt – von den Grenzwächtern nicht durchgelassen. Andere Flüchtende, auch unbegleitete Minderjährige, möchten zu ihren Verwandten reisen, die in Ländern nördlich der Schweiz leben. Auch sie werden an der Grenze zurückgewiesen, denn sie selber müssen in Italien eine Familienzusammenführung einleiten. Es handelt sich hier um anspruchsvolle Verfahren, welche die Asylsuchenden nicht bewältigen können, ohne von Freiwilligen unterstützt zu werden. Eine weitere Gruppe von Menschen auf der Flucht, darunter unbegleitete Minderjährige, wünschen Asyl in der Schweiz, manche möchten überdies zu ihren Angehörigen gelangen, die in unserem Land leben. Bundesrätin Simonetta Sommaruga hat kürzlich mitgeteilt, «an der Grenze aufgegriffene Personen, die in der Schweiz Asyl oder Schutz suchen» würden «durch das Grenzwachtkorps» dem Empfangs- und Verfahrenszentrum in Chiasso übergeben, wo das Asylverfahren beginnt. Am Medienanlass sagte Maurer, das Grenzwachtkorps leiste «hervorragende Arbeit». Dieses Kompliment kann ich nur bedingt teilen, denn von Beobachtern und Freiwilligen, welche auf beiden Seiten der Grenze Menschen auf der Flucht unterstützen, werden zahlreiche Fälle von Personen gemeldet, die um Asyl nachsuchen wollen, aber von Grenzwächtern zurückgewiesen werden. Damit werden die Aussagen der Bundesrätin teilweise widerlegt, und das Grenzwachtkorps liess bisher keine Kritik gelten. Da Aussage gegen Aussage steht, wäre es angezeigt, diese Fälle durch eine unabhängige Instanz überprüfen zu lassen.
Viertens: Die Entwicklung der Asylgesuche ist ungewiss. Nach einem Anstieg um zwei Drittel im Jahr 2015 auf 39’000 Gesuche ist deren Zahl von Januar bis November 2016 stark gesunken, auf 25’500. Trotzdem befürchtet Bundesrat Maurer, die Lage werde sich verschärfen, denn im Hinblick auf die Wahlen in Deutschland und Frankreich werden seiner Meinung nach die Grenzen strenger kontrolliert werden. Mit Verweis auf den Terroranschlag in Berlin im vergangenen Dezember fügte der Bundesrat bei, das Grenzwachtkorps müsse die Kontrollen auch an der Nordgrenze verstärken und die Befragung der angehaltenen Personen qualitativ verbessern. Ist es angebracht, dass ein Bundesrat über eine mögliche Verschärfung der Lage an den Grenzen spekuliert, um den Einsatz von Armeeangehörigen zu rechtfertigen? Der Einsatz von Mitgliedern der Armee würde in der Bevölkerung Furcht und Unsicherheit auslösen und den Eindruck erwecken, es bestehe ein Notstand, den es nicht gibt.
Sofern der Bundesrat ein Gesuch des Verteidigungsdepartements erhält, wird er die Lage an den Grenzen neu beurteilen müssen. Angesichts der oben erwähnten Notfallplanung wird er in nächster Zeit den Einsatz von Militärpersonen zur Entlastung des Grenzwachtkorps kaum bewilligen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine