Ein Wind der Revolution durchweht die Welt
Frieden und Freiheit sind die beiden Ziele, denen sich der Algerier Boualem Sansal verschrieben hat, der Preisträger des «Friedenspreis des deutschen Buchhandels» 2011. Der Ingenieur und Ökonom Sansal schreibt auf Leben und Tod – seine Bücher sind in Algerien verboten, und sein Leben ist ständig bedroht. 1999 ist sein erster Roman erschienen: «Der Schwur der Barbaren», und seither folgen die Bücher in rascher Folge. Er spricht über die Doppelmoral der politischen Führer des Westens, über die Auswanderer aus Nordafrika und über den Zusammenhang zwischen der arabischen Revolution und dem Widerstand in der Welt: »Es wäre schön, wenn die arabische Revolution auch zu einer Revolution in Europa führen würde. Europa und seine Führer müssen sich eingestehen: Wir haben uns geirrt.»
Die langsame Gewalt
«Die Literatur ist eine langsame Gewalt», erklärte Peter von Matt gleich am Anfang seiner Laudatio. «Aber es gibt keinen Felsen, der ihr auf die Dauer widerstehen könnte,» fuhrt er fort, «sofern sie denn im Vollbesitz ihrer Mittel ist». Und über Sansal: «Er ist ein unbändiger Erzähler, ein Satiriker von Rang, witzig und weise, unerbittlich in den Diagnosen dessen, was schlecht läuft, gnadenlos hart im Urteil über die Habgier der Mächtigen, und immer von Mitleid bewegt über das Schicksal der kleinen Leute in seiner Heimat Algerien.»
Sansal, der Algerier, hat am Ende seiner Rede den Blick auf die ganze Welt gerichtet, wie er das seit Jahren immer wieder tut, und er hat eine Verbindung hergestellt zwischen der arabischen Revolution und den Bewegungen in Europa, Amerika und der Welt. Diese Bewegungen wissen noch nicht so recht, wohin sie sich bewegen wollen, sagen viele Beobachter. Aber sie treffen sich mit Boualem Sansal sicher im Streben nach dem Glück, das sich nur in Frieden und Freiheit findet.
Das ist der Schluss seiner Rede bei der Verleihung des «Friedenspreis des deutschen Buchhandels» 2011:
BOUALEM SANSAL: Der Schluss der Rede zum «Friedenspreis des deutschen Buchhandels» 2011
«Mit Ihrer Erlaubnis möchte ich zum Schluss dieser Rede auf die arabischen Revolten und den israelisch-palästinensischen Konflikt eingehen. Wir spüren alle, dass sich seit der tunesischen Jasmin-Revolution in der Welt etwas geändert hat. Was uns in der verknöcherten, komplizierten und schwarzseherischen arabischen Welt unmöglich schien, ist nun eingetreten. Die Menschen kämpfen für die Freiheit. Sie engagieren sich für die Demokratie. Sie öffnen Türen und Fenster. Sie blicken in die Zukunft, und diese Zukunft soll erfreulich, soll ganz einfach menschlich sein.
Ein neues Bewusstsein
»Was derzeit geschieht, ist meines Erachtens nicht nur eine Jagd auf alte, bornierte und schwerhörige Diktatoren, und es beschränkt sich nicht auf die arabischen Länder, sondern es kommt eine weltweite Veränderung auf, eine kopernikanische Revolution: Die Menschen wollen eine echte, universelle Demokratie ohne Grenzen und ohne Tabus. Alles, was den Menschen, oder was dem Leben Gewalt antut, das verarmen lässt, das beschränkt und denaturiert, ist dem Gewissen der Welt unerträglich geworden. Und wird mit aller Macht abgelehnt. Die Menschen lehnen Diktatoren ab, Extremisten, sie lehnen das Diktat des Marktes ab. Sie lehnen den erstickenden Zugriff der Religion ab. Sie lehnen den anmassenden und feigen Zynismus der Realpolitik ab. Sie verweigern sich dem Schicksal, auch wenn jenes das letzte Wort haben mag.
Sie lehnen sich gegen alle Arten von Verschmutzern auf. Überall empören sich die Leute und widersetzen sich dem, was den Menschen und dem Planeten schadet. Es entsteht ein neues Bewusstsein.
Und in der Geschichte der Nationen ist es eine Wende, wie man das in Ihrem Land (Deutschland, R.) beim Fall der Mauer in Berlin nannte.
Der Fall der Mauern
Im Zug all dieser Revolutionen wollen auch immer mehr Menschen nicht mehr hinnehmen, dass der älteste Konflikt der Welt, nämlich der israelisch-palästinensische, noch weiter andauert und morgen auch noch unsere Kinder und Enkel bedrückt. Wir sind sogar voller Ungeduld und wollen es nicht hinnehmen, dass diese beiden so sehr in der Menschheitsgeschichte verankerten grossen Völker auch nur einen Tag länger als Geiseln ihrer kleinen Diktatoren dahinleben, ihrer bornierten Extremisten, ihrer nicht zu entwöhnenden Nostalgiker, ihrer Erpresser und kleinen Provokateure.
Wir möchten, dass diese beiden Völker frei und glücklich und brüderlich leben. Wir sind davon überzeugt, dass der in Tunis angebrochene Frühling auch in Tel Aviv, in Gaza, in Ramallah eintreffen wird. Er wird nach China kommen und selbst noch weiter. Es ist ein Wind, der in alle Richtungen weht, und bald wird er Israelis und Palästinenser im Zeichen der gleichen Wut vereinen.
Dann kommt über den Nahen Osten die Wende, und mit herzlichem Getöse werden sämtliche Mauern fallen.
Der eigene Weg
Das wahre Wunder bestünde aber nicht darin, dass Israelis und Palästinenser eines Tages einen Frieden schliessen – das könnten sie leicht, innerhalb von fünf Minuten, an einem Küchentisch, und mehr als einmal waren sie auch schon ganz nahe dran. Das wahre Wunder wäre vielmehr, dass diejenigen, die sich als Paten, als Tutoren und als Berater der beiden Länder aufspielen, mehr noch: als unnachgiebige Propheten, dass sie endlich einmal aufhören, ihnen ihre eigenen Hirngespinste aufzuladen: Heilige Kriege, ständige Kreuzzüge, ewige Schwüre, geostrategische Heilspläne – all das ist längst passé. Israelis und Palästinenser leben hier und jetzt und nicht in einer mythischen Vergangenheit, die durch sie wieder aufleben müsste.
Der Antrag auf Anerkennung eines unabhängigen und souveränen palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967, den Präsident Mahmoud Abbas der UNO vorgelegt hat, war ein Schlag ins Wasser. Das wussten wir bereits im Voraus. Doch bin ich der Meinung, dass dieser kleine Schlag, selbst wenn er daneben ging, sich noch als grosser Schlag erweisen wird, so entscheidend wie die Selbstverbrennung des jungen Tunesiers Mohamed Bouazizi, die die arabische Welt entflammte.
Zum ersten Mal seit sechzig Jahren haben die Palästinenser nur aus eigenem Willen heraus gehandelt. Sie sind nach New York gekommen, weil sie selbst es wollten. Und sie haben niemanden gebeten, diesen Schritt zu genehmigen oder für ihn gerade zu stehen. Weder die arabischen Diktatoren, die wir einen nach dem anderen beerdigen, noch die arabische Liga, die nun nicht mehr die Kriegstrommel rührt, noch irgend einen geheimnisvollen Mufti aus einem islamistischen Hinterzimmer. Es ist ein aussergewöhnliches Ereignis. Zum erstenmal haben Palästinenser wie Palästinenser im Dienste Palästinas agiert und nicht als Instrument im Dienste einer mythischen arabischen Nation oder einer leider sehr reellen dschihadistischen Internationalen.
Die Verkündigung des Friedens
Einen Frieden können nur freie Menschen schliessen. Abbas ist als freier Mensch gekommen und wird das vielleicht wie Sadat mit dem Leben bezahlen. Es fehlt in der Region nicht an Feindes des Friedens und der Freiheit, die sich nun in die Enge gedrängt sehen. Traurig ist, dass ein Mann wie Obama, dieses wunderbare Bindeglied zwischen den beiden Hemisphären unseres Planeten, dieses nicht verstanden und damit auch die Gelegenheit nicht ergriffen hat, auf die er seit seiner berühmten Kairoer Rede doch gelauert hatte.
Israel ist ein freies Land. Daran zweifelt niemand. Es ist eine schöne, eine grosse, eine erstaunliche Demokratie, und mehr als jedes andere Land braucht es Frieden. Der ständige Kriegs- und Alarmzustand, ist nicht mehr tragbar, und das Land muss seinerseits mit den Extremisten brechen und mit all den Lobbies, die aus dem Schutz ihrer fernen Paradiese heraus das Land zu einer Unbeugsamkeit anstiften, die natürlich völlig unfruchtbar ist, und damit Israel in einen Kerker unlösbarer Gleichungen einsperren.
Meiner Ansicht nach müssen wir uns alle von dem Gedanken lösen, dass sich ein Frieden aushandeln lässt. Aushandeln lassen sich Modalitäten, Formen, Etappen, aber der Frieden selbst ist ein Prinzip: Er muss öffentlich verkündet werden, auf feierliche Weise. Man muss sagen: «Friede, Schalom, Salam», und sich dann die Hand reichen.
Das hat Abbas getan, als er zur Uno gegangen ist, und das hat Sadat getan, als er nach Tel Aviv ging. Ist es ein blosser Traum, wenn man sich wünscht, dass Netanjahu ein Gleiches tut, indem er zur Uno geht oder nach Ramallah und dort das Prinzip des Friedens verkündet?
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.»
Nachtrag:
Die ganze Rede von Boualem Sansal erscheint zusammen mit der Laudatio von Peter von Matt am 31. Oktober in einem Buch. Nähere Informationen beim Börsenverein des deutschen Buchhandels info@boev.de – Der hier publizierte Text basiert auf der Simultanübersetzung des ZDF.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine