Schock: Mandela nahm Nobelpreis mit de Klerk an
upg. Al Imfeld ist einer der besten Afrika-Kenner der Schweiz. Er verfolgt die Entwicklung seit Jahrzehnten. Für Infosperber hat er folgende Würdigung und Einschätzung Nelson Mandelas verfasst. Auszeichnungen vom Autor.
MANDELAS EXEMPLARISCHER BEITRAG ZUM FRIEDEN
Wenn ich alle moralisch oder ethisch hochstehenden Menschen der letzten 100 Jahre vor meinen Augen vorbeiziehen lasse, gehört der Südafrikaner Nelson Mandela nicht nur zu den Grössten, sondern auch tiefgründigsten Erforschern des Friedens – nicht so sehr durch Schriften sondern durch Zeugnisse seines Lebens, welches erst noch auf diesen Aspekt hin erforscht werden muss. Andere werden heute noch Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Mutter Teresa, Albert Schweitzer oder sogar John F. Kennedy nennen. Doch überragt – meiner Meinung nach – Nelson Mandela alle.
Nelson Mandela hat den Begriff des gewaltlosen Widerstandes breiter und sogar widersprüchlicher gelebt als Gandhi oder King. Er hat weiter durch sein Leben und durch wenige Worte gezeigt, was es auszuloten gilt, um langsam Frieden zu machen. Andere waren vielleicht wortmächtiger als er, etwa Schweitzer oder Kennedy. Andere wie Mutter Teresa lebten ein Leben mit den Ärmsten vor, doch Nelson Mandelas 27 Jahre Haft ohne Gram danach zersetzten Strukturen der Apartheid und zermürbten ein teuflisches System. Sein Leben war mehr als Nächstenliebe und papierene Ehrfurcht. Er war mehr als eine Theologie der Befreiung, die auf Klassenkampf und ewig neuem Dualismus aufbaut; er lebte wahrlich mehr als eine rechthaberische Theologie; für ihn ist Gott nicht einfach ein einziger Lichtstrahl; alles Göttliche muss wie ein Regenbogen sein.
Im Folgenden einige entscheidende Begriffe, denen Mandela einen neuen Inhalt gab.
Frieden: Zusammen mit de Klerk!
1993 erhielt Nelson Mandela zusammen mit Frederik de Klerk den Friedensnobelpreis. Über diese Kombination waren weltweit viele schockiert und einige meinten gar, Mandela hätte dazu nein sagen müssen.
Mandela sah das ganz anders: Zu einem Frieden braucht es stets beide Seiten; Frieden löst nicht einfach ab; Frieden ist kein Sieg über Gut und Bös. Frieden ist ein Zusammenkommen in einem Kompromiss von zwei sich widersprechenden Seiten, bei dem beide Seiten etwas abgeben; beide geben zuerst ein wenig nach, um diesen gesicherten Teil langsam über die Zeit zu vermehren. Frieden kommt nicht einfach. Frieden setzt ein mentales Ringen voraus, eine Distanznahme, um sich weiter zu entwickeln. Während dieses Ringens ist jegliche Verhetzung schädlich. Eine Rechthaberpartei schadet immer auch dem Frieden, obwohl genau solche Parteien die Verteidigung überbetonen. Deshalb war Nelson Mandela überzeugt, dass weder eine Kirche noch eine Partei, weder ein Volk noch eine Nation allein recht haben kann. Alle haben hier teil, alle etwas Recht, alle einen Zipfel der Wahrheit, alle betonen und erhellen einen besonderen Aspekt.
Gewaltloser Widerstand
Die Idee des gewaltlosen Widerstands hatte in den faszinierenden Savannen mit den angrenzenden Wüsten Südafrikas immer einen Nährboden. Die Wüste erzwingt zum Überleben ein Eingehen aller auf alle und alles. Schliesslich hat auch Gandhi seine Spiritualität hier während zwei Jahrzehnten entwickelt. Gandhi vergass jedoch – vielleicht wegen dem südafrikanischen Hintergrund – den islamischen Bevölkerungsteil; er ging zu stark und einseitig hinduistisch vor. Er übersah im Konzept einen ganz wichtigen Teil der Bevölkerung, den islamischen. Eigentlich hätte ihm der alte muslimische Autokrat Akbar (1542-1608) eine Lehre sein können: dieser liess bei allen grossartigen Bauten jede Arbeit von je einem Hindu und einem Muslim machen, denn er wollte beide oder gar mehrere Teile zusammenschweissen. Gandhi hatte wenig Kenntnisse vom Islam und hatte kein Wissen über einen Ansatz von Gewaltlosigkeit im indischen Islam.
Ganz anders verhielt es sich mit Gewaltlosigkeit bei Martin Luther King. Ihm ging es um Grundrechte, vielleicht sogar nur um das Stimmrecht für Amerikas Schwarze. Die Rassentrennung war so stark, dass es sogar getrennte schwarze und weisse Kirchen gab. Kings Spiritualität der Gewaltlosigkeit kam aus der Ohnmacht und war Interessen ausgerichtet, nämlich das Stimmrecht für Schwarze. Bei ihm war es vornehmlich Taktik.
Ganz anders verhält sich diese Gewaltlosigkeit bei Nelson Mandela. 1952 begann in Südafrika von Seiten der Schwarzen die Defiance Kampagne. Diese war damals noch ganz vom Geist Gandhis geprägt. Mandela stand jedoch nie allein da; hinter ihm war die alte (bereits 1912 gegründet), gemischtrassige (neben Schwarzen auch Weisse, Inder, Juden und Mischlinge) und aus mehreren Ideologien (Kommunisten, kirchlich Engagierten) bestehende ANC, dem Afrikanische Nationalkongress.
In einem derartigen Gemisch konnte Gewaltlosigkeit nur einen Teil der Mitglieder überzeugen. Als 1960 das Sharpville Massaker stattfand, musste auch Mandela nachgeben und Mittel der Gegengewalt akzeptieren. Allein hätte er eine breite Aufstandbewegung zerbrochen. Hier zeigt sich auch der Taktiker. All das heisst jedoch nicht, dass er (für sich selbst) die Spiritualität der Gewaltlosigkeit aufgab; er verstand auch doppelbödig zu leben; er konnte Wichtiges sogar zurückstellen. All das ist Teil der Geduld; Wachsen beginnt mit dem Keimen.
Für Mandela war seit jenem erschütternden Zeitpunkt weg klar: Gewaltlosigkeit und Widerspruch gehören zusammen; beide sind nicht klar trennbar. So etwas wollen nur Theoretiker; Praktiker wissen, dass selbst der Heilige mit Widersprüchen leben muss.
Wesentlich ist Mandelas Erweiterung der Gewaltlosigkeit. Nelson Mandela lehrt uns, dass Gewaltlosigkeit sich kaum erträgt in einem monotheistischen und monokulturellen System. Vielfalt und Toleranz gehören zur Voraussetzung. Dazu braucht es die Welt des Regenbogens. Darin eingeschlossen ist das Vor- und Nachgeben, das Zurücknehmen und hohe geistige Ausstrahlung.
Mandela hat auch immer wieder auf andere, die ebenfalls ein Gegenklima zu entwickeln und zu leben versuchten, hingewiesen: allen voran Denis Goldberg, ein Weisser, 1933 geboren, mit Mandela Angeklagter im Rivonia Prozess, ebenfalls im Gefängnis, dann der anglikanische Bischof Desmond Tutu oder die Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer. Einer allein, das ist seine Überzeugung, macht keinen gewaltlosen Widerstand.
Warum Mandela die Fussball-WM wollte
Der Film Invictus (der Unbezwungene) scheint mir die beste Zeichnung von Mandelas Grösse zu sein.
Am 11. Februar 1990 wurde er endlich, nach 27 Jahren, aus der Haft entlassen. Dabei hatte er sich 1988 die erste Lungenentzündung zugezogen, wovon er sich nie ganz erholte. Er kam heraus, strahlend, charismatisch und ohne jeglichen Gram gegen die Geschichte, ohne Rachegedanken. 1994-99 war er der erste «schwarze» Präsident. Er selbst vermied fortan stets zwei Worte: «schwarz», denn Südafrika ist gemischt; und «Feind/e», denn die anderen sind Oppositionelle oder Andersdenkende wie bei einem Rugbymatch oder Fussballspiel mit zwei Parteien, die (friedlich) gegeneinander kämpfen.
Zwei seiner erstaunlichen Zeugnisse von einer veränderten Geisteshaltung bei Nelson Mandela sind:
- Die Aufarbeitung einer traurigen und heiklen Geschichte mit der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC), welche ab 1996 öffentlich unter dem Vorsitz von Bischof Desmond Tutu tagte und vom Fernsehen live ausgestrahlt wurde. Diese Kommission beendete ihre Arbeit im Jahr 1998.
- Mandela sah im Sport eine ausserordentliche Möglichkeit, zwischen Weiss und Schwarz und innerhalb der mindestens 18 «gewichtigen» schwarzen Ethnien ein Gefühl einer Nation (nation-building) zu kreieren. So verbot er nicht etwa das Rugby-Spiel der Buren und Weissen, die das sehr emotional und bis zum Ende der Apartheid exklusiv mit Weissen betrieben, nein – wie der Film Invictus hervorragend illustriert – Mandela ging sogar zum wichtigsten Match. Manche schwarzen Mitbürger konnten diesen Akt nicht verstehen. – Aus diesem Grund war es ihm wichtig, die Fussballweltmeisterschaft zugesprochen zu bekommen. Dafür riskierte er hohe Kosten, doch der Geist, der damit verbunden, war ihm wichtiger. Auch das wollten vielen nicht verstehen.
Wir haben stets eine andere Seite hinter bestimmten Taten zu sehen, und da Mandela niemals ein Dualist war, wusste er ganz genau, dass es andere Seiten (zu Recht) gab.
Keine Rache, sondern Versöhnungskommission
Nehmen wir die Versöhnungskommission TRC heraus. Die meisten Schwarzen wollten Rache, also die Verurteilung der Apartheid-Verbrecher gefolgt von entweder Todesstrafe oder langjähriger Inhaftierung. Was bei Mandela so erstaunt ist, dass er keine Rache kannte. Er selbst war Rechtsanwalt und stand in britischer Rechtstradition. Er wusste ganz genau, dass das Volk nicht so sehr das Recht als vielmehr die Bestrafung sieht, und was daraufhin folgt, schert die meisten Menschen nicht.
Der Psychologe Pumla Gobodo-Madikizela, selbst ein Mitglied der Kommission drückt auch Mandelas Sicht aus, wenn er schreibt: «Gerichte ermutigen Menschen, ihre Schuld zu bestreiten. Die Wahrheitskommission lädt sie ein, die Wahrheit zu sagen. Vor Gericht werden Schuldige bestraft, in der Wahrheitskommission wird Reue belohnt.» Mandela wollte ein möglichst breites Feld abdecken und ein vielfältigeres Bild der Vorfälle erhalten. Was alles an den Tag kam, gab ihm Recht. Er wusste, dass dennoch vieles verborgen blieb.
Diese Verbreiterung bedeutete, dass man der Wahrheit etwas näher kam. TRC trug viel zur Versöhnung bei. Bald nahm die Spannung ab; Ermüdung traf ein. Deshalb konnte diese Kommission nicht unendlich lange operieren.
Von der Kommunismus- zur Terroristenbekämpfung
Vieles wurde im Westen nie verstanden. Man hatte sowohl in den USA als auch in Grossbritannien und in deren Gefolge im gesamte Westen die Befürchtung verbreitet, dass Südafrika vom Kommunismus bedroht war. Man bezeichnete Nelson Mandela als Terroristen (noch 1988 von Ronald Reagan; in jener Zeit auch von Margret Thatcher) und setzte ihn auf die Watchliste der gefährlichsten Verbrecher. George W. Bush hat ihn erst 2008 von dieser Liste gestrichen. Bei seinem Besuch 2013 erklärte US-Präsident Obama Mandela als sein Vorbild.
Diese traurige Geschichte rund um Nelson Mandela sollte für die Politik von heute eine Lehre sein. Doch man operiert unreflektiert und undifferenziert weltweit mit dem Begriff des Terrorismus weiter.
Ein grosser Ethiker
Ethisch betrachtet war Nelson Mandela einer, der manchen Schlagworten durch sein langes Leben und Leiden mehr Fleisch und Inhalt gab. Er hat erprobt, was Gewaltlosigkeit und Frieden in einem bestimmten Kontext der Geschichte ist. Er ist nicht nur ein einzigartiger Held; wir haben ihn auch unter die grossen Ethiker einzureihen.
Ich war ganz zufrieden, als der Tagesanzeiger am 23. Mai 2013 ein Editorial zu Nelson Mandela den Titel gab: «Moralischer Koloss».
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An einem der kommenden Tage erklärt Al Imfeld näher, warum sich Martin Luther King bei allem Respekt nicht mit Nelson Mandela vergleichen lässt.
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KURZ-CHRONOLOGIE NELSON MANDELA
1918
in Transkei, Nähe Umtata, geboren, geformt von Sitte, Ritual und Tabu der Xhosa
1952
Defiance-Kampagne; im Geiste Gandhis gewaltlos. Mandela wurde bald verhaftet wegen Kommunismus Verdacht
1960
Sharpville Massaker; ANC gibt Gewaltlosigkeit auf
1964
Mandela wird am 12. Juni im Rivonia-Prozess (Treason Trial) verurteilt. Prozess dauerte 8 Monate. Wegen Sabotage und Planung bewaffneten Kampfs verurteilt. Daraufhin 27 im Gefängnis auf Robben Island, ab 1982 im Polismoor Gefängnis bei Kapstadt. Hier 1988 1. Lungen-TB-Entzündung
1988
Mandela wird sowohl von Präsident Reagan als auch Margareth Thatcher als gefährlicher Terrorist auf die sog. Watch-Liste gesetzt.
1990
Mandela wird am 11. Februar aus Haft entlassen: Frei
1993
Mandela erhält und akzeptiert zusammen mit Frederik de Klerk Friedensnobelreis.
1994-99
Erster Ministerpräsident nach Aufhebung der Apartheid. Nachfolger (1990-2008)Thabo Mbeki (geb. 1942), seit 2009 Jacob Zuma (geb. 1942)
2008
Mandela wird endlich von USA und GB rehabilitiert und von der Terroristenliste gestrichen.
2010
Fussballweltmeisterschaft: eine längere Phase des Enthusiasmus gefolgt von Nüchternheit und haufenweise Probleme. Das Volk hatte zuviel erwartet.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor kennt Afrika seit Jahrzehnten, hat politische und literarische Texte übersetzt und gilt als einer der besten Kenner dieses Kontinents. Imfeld hatte in den USA in evangelischer Theologie doktoriert und anschliessend vergleichende Religionswissenschaft, Entwicklungssoziologie und Tropenlandwirtschaft studiert. Anfangs der 1970er Jahre gründete e das Informationszentrum Dritte Welt i3w. Imfeld ist Autor von über fünfzig Bücher.
"Er war mehr als eine Theologie der Befreiung, die auf Klassenkampf und ewig neuem Dualismus aufbaut, …» schreibt der von mir sehr geschätzte Autor. Mit Verlaub: Da hängt er doch wohl einem Zerrbild von Befreiungstheologie an, wie es auch immer vom Vatikan gemalt und mit rigorosen Mitteln bekämpft worden ist. Tatsache ist, dass in den Anfängen in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts v.a. Befreiungstheologen lateinamerikanischer Provenienz Begrifflichkeiten marxistischer Prägung als Instrumente zur Realitätsanalyse verwendeten. Doch auch die Befreiungstheologie hat gelernt; nicht zuletzt von den Frauen und ihrer Perspektive: Von einer dualistischen Sicht auf die Wirklichkeit, die zugegebenermassen schnell ideologisch wird, kann bei feministischen Befreiungstheologinnen keine Rede sein: Nicht Klassen- noch Geschlechterkampf ist da angesagt, sondern ein differenzierte, kontextuelle Sicht auf das Leben. «Otro mundo es posible; un mundo donde caben tod@s.» Dies wird auch in Südafrika nicht anders sein. Ein Regenbogen ist vielleicht weniger hell als ein luzider Lichtstrahl, dafür umso farbiger. Und dazu trugen und tragen auch Frauen massgeblich bei.
Der denkwürdige Satz von Popper «Die Theologie ist ein Fehler» gilt, wie Al Imfeld gemerkt hat, wohl auch für die nach wie vor feindbildorientierte sog. «Theologie der Befreiung", besonders dann, wenn Grundlagenkenntnisse in Finanzwissenschaft, Technik und Oekonomie fehlen; dass indes der Monotheismus automatisch zu Unfrieden führt, ist schon etwa ab dem Niveau von Bruder Klaus nicht mehr gegeben; dieser war, wie Mandela, kein Unschuldslamm, stimmte als Obwaldner Truppenführer bei der Abstimmung betr. Köpfen oder Verbrennen der Besatzung von Greifensee für das «humanere» Köpfen; Mandela, dieser «moralische Koloss", wie ihn Kollege Imfeld nennt, war mit einer Frau verheiratet, welche die berüchtigten Halskrausenmassaker befürwortet, wenn nicht sogar angeordnet hat, und als Freiheitskämpfer des ANC handelte er mindestens phasenweise auf dem Niveau seines Mitfriedensnobelpreisträgers Menachem Begin (Israel), welcher es bekanntlich nicht ganz zu einem Idol gebracht hat.
Am meisten beeindruckt hat mich Nelson Mandela als politischer Häftling, zumal ich über den am längsten eingesperrten polititschen Gefangenen der Schweiz, Micheli du Crest (1690 – 1766) eine Biographie geschrieben habe. Micheli du Crest lebte ohne Happy End 20 Jahre auf der Aarburg, und er hatte eine Zeitlang einen ähnlich guten Gefängniswärter wie Mandela, nur hat man auf der Aarburg ihm diesen Gefängniswärter wieder weggenommen, denselben mit Peitschenhieben vertrieben. Dass Mandela den Weg der Versöhnung gewiesen und gefunden hat, bleibt, wie es Al Imfeld mit Recht beschrieben hat, ein welthistorisches Verdienst, wobei Gandhi nicht gegen Mandela und umgekehrt ausgespielt werden dürfte. Albert Schweitzer wiederum war zwar um Welten gebildeter als der Spice-Girls-Verehrer Mandela, hat jedoch mit seinem nicht unumstrittenen Konzept von Lambarene und vor allem der entsprechenden Praxis vor dem Gericht der Geschichte nicht Recht bekommen. Auch müssen Vergleiche mit Kennedy, der nie ein Buch oder eine bedeutende Rede annähernd selber geschrieben hat und charakterlich doch näher bei Berlusconi als bei Mandela lag, zurückgewiesen werden. Mandela wird mit Recht zu den bedeutendsten und eindrücklichsten Figuren der gegenwärtigen Zeitgeschichte gezählt, wiewohl ein Teil des Mandela-Kultes tatsächlich nicht nur auf objektive Eigenschaften, sondern auf schlechtes Gewissen der westlichen Menschheit zurückgeht. In der Fähigkeit zur Versöhnung auf der Basis einer gesicherten Legitimation als politischer Führer, der sich nie einer Ethnie allein verpflichtet fühlen wollte (geschweige denn einer Klasse), bewegte sich Mandela in einem ganz anderen Bereich als etwa der noch vor 30 Jahren von katholischen Missionaren und Patres verteidigte Mugabe, zu schweigen von Fidel Castro u. Co. Der Ausdruck «moralischer Koloss» ist auch deswegen voll daneben, weil er zum Beispiel zu Sokrates und Jesus Christus, welche nie mit Moral geprotzt haben, überhaupt nicht passen würde.
Das Für-und-Wider zwischen Artikel und Kommentator bezüglich der «Heiligkeit» eines Nelson Mandelas beweist doch nur zu gut, dass der Mensch nach solchen Leuchttürmen im Meer einer immer unübersichtlich werdenden Welt verzweifelt Ausschau hält. Die Theologie ist demnach kein Fehler, sondern der Versuch, Fragen von Menschenwürde und Gerechtigkeit zu reflektieren und Antworten darauf zu finden. Und in diesem Zusammenhang sind die Theologien der Befreiung (Mehrzahl: sic!) der kleinste Fehler, waren und sind sie es doch, welche im Dialog mit den Sozial-, Wirtschafts- und Kulturwissenschaften eben diese dringend benötigten Antworten suchten und immer wieder von Neuem suchen. «Nach wie vor feindbildorientiert» soll die «Theologie der Befreiung» sein. Tatsache ist, dass diese auf unserer Welt die Wirtschafts- und Machtverhältnisse nach wie vor sehr ungerecht ist. Und die Hydra Krieg erhebt leider immer noch ihre militaristischen Häupter. Und wenn der hüben wie drüben grassierende Neoliberalismus kein Feindbild sein soll, dann weiss ich auch nichts mehr! Ist es da verwerflich, wenn Menschen im Süden unseres Planeten ihre Situation zum Beispiel in der Lektüre des biblischen Buchs der Apokalypse wieder entdecken? Diese hatte zu ihrer Entstehungszeit nämlich das Imperium des Römischen Reiches zum Vorbild. Es ist anzuerkennen, dass Theologie anderswo pointierter betrieben werden muss als in unseren saturierten, sinnentleerten Breitengraden; aus der simplen Tatsache heraus, da die dortigen Lebensrealitäten dies unbedingt erfordern.
Auch wir in Europa hätten in unserer Geschichte Beispiele von Widerstand gegen weltliche und kirchliche Macht. Vielleicht würde eine Besinnung auf das waldensische Erbe dazu beitragen, die schwierigen Lebensbedingungen der Menschen im Süden und Osten unserer Welt ein wenig besser zu verstehen. Die «Glorieuse Rentree» als bewundernswerte Tat von Widerstand gegen die Herrschenden.