Die Schweiz will Datenspeicherung sogar verlängern
Am 8. April hat der Europäische Gerichtshof die EU-Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten für ungültig erklärt. Schweizer Medien haben, wenn überhaupt, nur am Rande darüber berichtet und man konnte den Eindruck gewinnen, es handle sich um ein rein EU-internes Problem. Fakt ist aber, dass auch in der Schweiz unabhängig von einem Verdacht und flächendeckend Vorratsdaten gespeichert werden – ja gespeichert werden müssen: Nach Artikel 15 des Bundesgesetzes betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs sind die Anbieterinnen (u.a. eines Internetzugangs) verpflichtet, die Verkehrs- und Rechnungsdaten ihrer Kunden während sechs Monaten aufzubewahren.
Bei der E-Mail-Kommunikation werden z.B. die E-Mail-Adressen von Absenderin und Empfänger sowie die Zeitangaben zur Übertragung von Mails erfasst. Bei der Handynutzung (für Telefonie oder Internet) werden u.a. auch die benutzten Antennen erfasst, sodass nicht nur gespeichert wird, wer wann wie lange mit wem kommuniziert, sondern auch, wo sich die betreffende Person zum fraglichen Zeitpunkt aufgehalten hat. Weil heutige Handys auch ohne aktive Nutzung laufend Daten senden und empfangen (z.B. automatische Updates, E-Mail-Abruf, Wetterdaten), lassen sich so genaue Bewegungsprofile aller Nutzerinnen von modernen Smartphones erstellen.
Die von jedem Internet- und Handynutzer erfassten Vorratsdaten geben also u.a. Aufschluss darüber, wo sich jemand wann befunden und mit wem er kommuniziert hat. Um sich ein Bild davon zu machen, empfiehlt sich die eindrückliche Visualisierung der Vorratsdaten von Nationalrat Balthasar Glättli. Über einen Zeitraum von 6 Monaten wird auf der Karte dargestellt, wo sich Glättli zu welchem Zeitpunkt befunden hat und mit wem er wann telefoniert, gemailt oder SMS ausgetauscht hat. Auf einer weiteren Darstellung ist das Kontaktnetzwerk visualisiert, wobei über jede Person festgehalten ist, wie viele E-Mails und SMS sie von Glättli empfangen und an ihn versendet hat und wie oft telefoniert wurde.
Vorratsdatenspeicherung ist verfassungswidrig
Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs verletzt die Vorratsdatenspeicherung die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten, weil sie sich generell auf sämtliche Personen und elektronischen Kommunikationsmittel erstreckt, weil der Zugang zu den Daten zu wenig genau geregelt ist und weil die Speicherdauer von mindestens sechs Monaten unabhängig vom etwaigen Nutzen der Daten für das verfolgte Ziel gilt. Hinzu kommt, dass die Richtlinie keine Massnahmen zum Schutz vor unberechtigtem Zugang und unberechtigter Nutzung vorsieht und dass keine Speicherung der Daten im Unionsgebiet vorgeschrieben ist. Aus all diesen Gründen hat der Gerichtshof erkannt, dass die Vorratsdatenspeicherung gemäss Richtlinie die Grundrechte unverhältnismässig einschränkt und die Richtlinie deshalb für ungültig erklärt.
Die Achtung des Privatlebens ist ein Grundrecht
Die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten sind nicht nur in Artikel 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, sondern auch in Artikel 13 der schweizerischen Bundesverfassung festgehalten. Sowohl die Modalitäten der Vorratsdatenspeicherung als auch die grundrechtliche Lage sind also in der Schweiz weitgehend identisch mit der Regelung in der EU. Die Vorratsdatenspeicherung gemäss Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs ist somit schon in ihrer heutigen Ausgestaltung verfassungswidrig. Aus diesem Grund hat die Digitale Gesellschaft Schweiz ein Verfahren gegen die Vorratsdatenspeicherung eingeleitet. Konkret wurde in einem ersten Schritt ein Gesuch auf Unterlassung der Vorratsdatenspeicherung beim Dienst Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr eingereicht. Sollte das Gesuch abgewiesen werden, womit gerechnet werden muss, ist ein Weiterzug durch alle Instanzen und allenfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgesehen. Weil die massgeblichen Grundrechte nicht nur in der Europäischen Menschenrechtskonvention, sondern auch in der schweizerischen Bundesverfassung verankert sind, sollte der Gang nach Strassburg nicht nötig sein. Die Schweiz kennt zwar keine Verfassungsgerichtsbarkeit, die heute praktizierte Vorratsdatenspeicherung ist aber bereits unter dem Blickwinkel einer verfassungskonformen Auslegung des Bundesgesetzes abzulehnen. Denn das Gesetz erwähnt lediglich pauschal «Verkehrs- und Rechnungsdaten» und hält im Unterschied zur EU-Richtlinie (siehe Artikel 5) nicht fest, welche Daten genau darunter zu verstehen sind.
Ungeachtet all dessen laufen die politischen Bestrebungen in der Schweiz aktuell in eine ganz andere Richtung, nämlich hin zu einem Ausbau der Vorratsdatenspeicherung: Der Ständerat hat am 10. März 2014 mit 22 zu 14 Stimmen der vom Bundesrat im Gesetzesentwurf vorgeschlagenen Verdoppelung der Aufbewahrungsdauer von 6 auf 12 Monate zugestimmt, wobei auch die Minderheit für eine Erhöhung (auf 8 Monate) votierte. Man darf gespannt sein, ob die Verfassungsmässigkeit bei der Beratung im Nationalrat (voraussichtlich im Juni) ein Thema sein wird.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Unter dem folgenden Link kann eine Präsentation des Dienstes Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr anlässlich einer Informationsveranstaltung vom 6. Mai 2014 eingesehen werden:
https://drive.google.com/file/d/0B1dniAyu5OGWcFJqZXpCRTZyaFU/edit?pli=1