Theologe Hans Küng plädiert für aktive Sterbehilfe
Hans Küng, 85, nimmt Medikamente gegen eine altersbedingte Makula-Degeneration der Augen und gegen Anzeichen einer Parkinson-Krankheit, er spürt die Folgen einer Zyste-Operation an einem Mittelfinger und leidet an einer verengten Nervenbahn im Rückenmark, die «den Schmerz vom Kreuz bis in die Fingerspitzen ausstrahlen lassen kann».
In seinem soeben erschienenen, nach eigenen Angaben letzten Buch «Erlebte Menschlichkeit» beschreibt der Schweizer Theologe Hans Küng das Erleben seines Alterns und begründet theologisch, warum jeder Mensch das Recht hat, sein Leben vorzeitig in die Hände Gottes zurückzugeben.
«In menschenwürdiger Weise Abschied nehmen»
Küng ist Mitglied der Sterbehilfeorganisation Exit. Eines seiner Schlüsselerlebnisse war das «lange Dahinsiechen» seines Bruders Georg, der schon früh an einem unheilbaren Gehirntumor gestorben war. «Meine Auffassung von Sterbehilfe will ich niemandem aufdrängen», schreibt Küng, «aber auch von niemandem meine Freiheit zur Rückgabe des Lebens nehmen lassen». Falls er nicht unerwartet plötzlich sterbe und selber über seinen Tod zu entscheiden habe, bitte er darum, seinen Wunsch zu erfüllen: «Es soll nicht in einer eher tristen, trostlosen Atmosphäre geschehen, vielmehr geistlich getröstet und begleitet – in meinem Haus in Tübingen oder in Sursee, von meinen engsten Kollegen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern möchte ich gerne in menschenwürdiger Weise Abschied nehmen können.»
Küng wendet sich vehement gegen eine Fremdbestimmung über seinen Tod: «Es sind vor allem bestimmte Ärztefunktionäre, Parlamentarier bestimmter Parteien und natürlich katholische Amtsträger und deren Propagandisten, die meinen, über Zeitpunkt und Art des Sterbens anderer Menschen entscheiden zu können und zu dürfen.» Über ihr eigenes Sterben sollen sie selber befinden, über das Sterben anderer Menschen jedoch nicht.
Langjährige Beschäftigung mit dem Tod
Küng beschäftigt sich nicht erst im hohen Alter mit der aktiven Sterbehilfe. Bereits 1988 hielt er in San Francisco eine Vorlesung mit dem Titel «Dying with Human Dignity». 1994 fand mit seinem Freund und Schriftsteller Walter Jens in Tübingen eine Doppelvorlesung über «menschenwürdiges Sterben» statt. Küng zitiert in seinem Buch, was Walter Jens damals über Würde und Würdelosigkeit des Sterbens sagte: «Millionen von Menschen könnten, wie Hans Küng und ich, gelassener unserer Arbeit nachgehen, wenn wir wüssten, dass uns eines Tages ein Arzt zur Seite stünde: kein Spezialist, sondern ein Hausarzt wie Max Schür es war, der nicht zögerte, seinem Patienten Sigmund Freud die tödliche Morphium-Dosis zu geben – freilich: erst nach vielen mit beispielloser Courage ertragenen Operationen und bei vollem Bewusstsein auf sich genommener Qualen…»
«Gott hat mein Leben in meine Verfügung gegeben»
Bereits in seinem Buch «Menschenwürdig sterben» habe er 1995 «betont theologisch» argumentiert, wie Küng in seinem neusten Buch schreibt: Nach seiner christlichen Überzeugung sei das menschliche Leben «eine Gabe Gottes». Gott habe das Leben in seine «eigene (nicht fremde!) Verfügung gegeben.» Und diese Verfügung gelte «auch für die letzte Etappe des Lebens, das Sterben». Sterbehilfe sei deshalb «ultimative Lebenshilfe».
Gott habe das menschliche Leben nirgends «auf ein rein biologisch-vegetatives Leben reduziert». Wörtlich fährt Küng fort: «Die frei verantwortete Rückgabe eines definitiv zerstörten Lebens unter unerträglichem Leiden ist nicht ‚vorzeitig’». Der Tod sei nicht immer der Feind des Lebens.
Palliativmedizin könne das Bewusstsein rauben
Die Schmerzen lindernde Palliativmedizin müsse mit allen Mitteln gefördert werden, doch sie sei «nicht auf alle Sterbewünsche die Antwort». Oft könnten einem Schwerstleidenden die Schmerzen nur genommen werden, wenn man ihn aller Wachheit und seines Willens beraube. Manchmal mache man Schwerstleidende sogar bewusstlos.
Die Gefässerkrankung im Gehirn habe bei Walter Jens ab 2004 zu einer rasch zunehmenden Demenz geführt. Seine Frau habe ehrlich erklärt, dass es «den Mann, den ich liebte, nicht mehr gibt». Mehrfach habe Küng bei Besuchen aus dem Mund von Walter Jens gehört «furchtbar…ich möchte sterben…mein Gott, warum hast Du mich verlassen?».
Wo hätte Walter Jens gerade in Deutschland den Arzt gefunden, der ihm beim Sterben hätte helfen können, fragt Küng. Er hätte wohl in die Schweiz reisen und eine Sterbehilfeorganisation in Anspruch nehmen müssen. «Manchmal packt mich der Zorn, wenn ich in der Presse von den immer wiederholten Ausflüchten und Fehlbehauptungen von Ärzten-, Juristen-, und Kirchenfunktionären lese, die eine gesetzliche Regelung dieser unhaltbaren Situation blockieren.»
Missbrauch des Leidenlassens
Es könne nicht nur zum Missbrauch kommen, dass man jemanden zum Sterben dränge. Auch der umgekehrte Missbrauch finde statt, meint Küng. Er erzählt das Beispiel einer 72-jährigen Patientin, die 2012 an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte, der metastasierte. Zur Schmerzlinderung wurde sie in die Palliativabteilung eines Spitals eingewiesen. Dort habe sie sich um 4 Uhr nachts aus dem Fenster stürzen müssen, nur um endlich sterben zu können.
Als Christ sei er überzeugt, fährt Küng fort, dass kein Mensch verpflichtet sei, Unerträgliches als Gott-gegeben zu ertragen. Jeder Mensch möge für sich selber entscheiden, «von keinem Priester, Arzt oder Richter daran gehindert». Und in solchen Fällen solle man keinesfalls von «Selbstmord» sprechen, sondern von «Suizid», «Selbsttötung» oder «Freitod». Am liebsten würde Küng von «Hingabe des Lebens» sprechen: Eine Rückgabe des Lebens in die Hände des Schöpfers. Dieser sei nach christlicher Auffassung «ein Gott der Barmherzigkeit und nicht ein grausamer Despot, der den Menschen möglichst lange in der Hölle seiner Schmerzen oder der reinen Hilflosigkeit sehen will».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Die Zusammenfassung der Gedanken Küngs durch Herrn Gasche verdient das Prädikat «vorzüglich". Küng will seine Auffassung von Sterbehilfe niemandem aufdrängen. Bei der Analyse geht mit ihm aber sein innerkirchliches Feindbild durch, betr. die «katholischen Amtsträger und deren Propagandisten, die meinen, über Zeitpunkt und Art des Sterbens anderer Menschen bestimmen zu müssen.» Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti aus Lugano, dessen Name einigen Mitgliedern der Bergier-Kommission Schweiz – 2. Weltkrieg nicht bekannt war, hätte das garantiert nicht gleich sehen können. Wegen der unbelehrbaren Sicht deutscher Katholiken in Sachen Sterbenachhilfe wurde er einer der wichtigsten nazistischen Kirchenkritiker. Da der Kirchenkampf jedoch umständehalber auf die Zeit nach dem «Endsieg» vertagt wurde, wurde Conti 1943 als Reichsgesundheitsführer aus dem Verkehr gezogen und zum Präsidenten der deutschen Paracelsus-Gesellschaft degradiert.
Historisch gesehen waren die wichtigsten Funktionäre, welche meinten, «über Zeitpunkt und Art des Sterbens anderer Menschen bestimmen zu müssen", dem sog. Fortschritt der Menschheit verpflichtete Mitglieder der NSDAP, der SA und der SS. Als einer bedeutendsten «Pioniere» dieser Art sah sich ein Schweizer, dessen Biographie ich schon seit Jahren in der Pipeline habe: Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti (1900 – 1945) aus Lugano, Sohn des dortigen Posthalters und dessen geschiedener Frau, der späteren Reichshebamme Nanna Conti, welche als im nationalen Sinn emanzipierte Frau zehn Jahre lang gegen die Vorurteile der bayrischen Hebammen betr. vernünftiges Abtreiben ankämpfte. Leonardo Contis Spezialität war, nebst Menschenversuchen im Programm T4, die aktive Sterbehilfe. Aber im Gegensatz zur Judenverfolgung gab es dagegen offenen Widerspruch von katholischer Seite, auch z.B. v. Bischof Galen und anderen, weswegen die Euthanasieprogramme dann ca. 1942/43 eingestellt wurden. Die Vorurteile der Katholiken gegen aktive Sterbehilfe waren für Conti, im Gegensatz zu Julius Streicher ein Gegner der Naturmedizin und ein radikal moderner Arzt, ein Haupthindernis für den Fortschritt, was auch Hitlersekretär Bormann ähnlich gesehen hat. Wie Himmler liess er über pädophile Priester Daten sammeln, um nach dem «Endsieg» mit diesen Leuten und generell mit der katholischen Kirche abrechnen zu können.
Aber die Vorurteile betr. Sterbehilfe lagen nun mal zutiefst in der katholischen und christlichen Mentalität, wonach der Augenblick des Sterbens dem Ratschluss Gottes überlassen bleiben müsse, und waren auch von Nazis schwer auszurotten. Die katholische Kirche stellt in Sachen Euthanasie und Abtreibung in der westlichen Welt noch heute das grösste Hindernis für eine aufgeklärte globalisierte Weltethik dar. Küngs reformerische Auffassungen, welche diesem Übelstand abhelfen wollen, sind aber nicht mit den nationalsozialistischen zu verwechseln. Im Vordergrund steht für den Theologen aus Sursee die absolute Autonomie des Menschen, die wichtigste Errungenschaft des aufgeklärten Agnostizismus und Atheismus. Dabei verbindet Küng mit diesem Gedankengut der Aufklärung ausgewählte vernünftige Sätze aus heiligen Büchern wie Bibel und Koran. Das dergestalt beweihräucherte Geistesprodukt nennt er «Weltethik". Das Problem der irreparablen Erbärmlichkeit unseres Sterbens wie auch das Problem des Bösen haben Dostojewskij, Tolstoi, Dürrenmatt, Canetti usw. anders gesehen als der in den Widersprüchen eines aufgeklärten Christentums und der politischen Korrektheit verstrickt gebliebene Küng. Am wenigsten Illusionen machte sich in dieser Sache Dürrenmatt, welcher den Hinschied seiner ersten Frau wie auch den seines Hundes auf stocknüchterne Art parallel darzustellen wusste.