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Was soll, was darf aus diesem Mädchen werden? © flickr/DieNeueSchule

Bildung ist der falsche Ort für "Wettbewerb"

Christian Müller /  Wo die Wirtschaft mitredet, will sie «Wettbewerb». Bei der Bildung führt der Wettbewerb aber zu falschen Resultaten.

(Der Beitrag wurde um einige zusätzliche Informationen zum gleichen Thema – Ostasien betreffend – ergänzt. Siehe unten unter «Weiterführende Informationen».)

Die Wirtschaft verlangt gut ausgebildete Arbeitskräfte. Unsere Gesellschaft aber braucht Menschen, die auch ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein haben, die noch wissen, was Solidarität ist, die es wissen oder es zumindest «fühlen», dass wir als Menschen letztlich nur in einer Gemeinschaft der sich gegenseitig Unterstützenden eine Überlebenschance haben. Dazu aber braucht es – auch in der Schule – mehr als nur das ABC und das 1×1.

Das Ranking, ein gefährlicher Virus

Mehr und mehr gerät das Bildungssystem unter den Druck des Rankings. Welche Schule «erzeugt» oder «generiert» die besten Schulabsolventen? Welches Land «erzeugt» oder «generiert» die besten Schulabgänger? Und woran wird das gemessen? Natürlich: an den «messbaren» Fächern. Freies Gestalten, handwerkliche Geschicklichkeit, Kreativität, gemeinsames Musizieren, aber auch Gymnastik oder Turnen, wie immer man die Fächer nennen mag: das interessiert die messende Wirtschaft nicht. Und Sinn für die Gemeinschaft? Ach-du-lieber-Gott! Leistung ist gefragt! Leistung! Leistung! Leistung! Und «Leistung» wird erzeugt, in dem man die Spitze zeigt, in dem man «die Besten» kultiviert, indem man auf «Ranking» setzt.

Viele Lehrerinnen und Lehrer wissen es und erfahren es täglich neu, was den heutigen Schülern fehlt. In der «grossen Politik» allerdings haben sie Hemmungen, es auszusprechen, sich dafür zu wehren. Sie könnten allzu leicht in Verdacht der SVP-Nähe kommen, oder, in anderen Ländern, in den Verdacht der Nähe zu einer anderen nationalkonservativen Partei. Und, verständlicherweise: wer will das schon? Denn im Bildungsbereich ist das Links-/Rechts-Schema noch weniger brauchbar als sonst schon. Wer für eine «menschliche» Schule votiert, wird gerne in die (politisch) rechte Ecke gestellt, auch wenn er oder sie bei Abstimmungen die SP oder die Grünen wählen.

Die Solothurner Zeitung hat zum Thema Schule, Bildung und Bildungswettbewerb ein interessantes Interview mit dem Wirtschafts- und Sozialwissenschafter Mathias Binswanger publiziert. Schade (aber wohl nicht ganz zufällig), dass es nur in dieser Splitausgabe des az-Zeitungsverbundes erschienen ist.

»Qualität ist nur schwer messbar»

Das Interview führte Elisabeth Seifert, Redaktorin an der Solothurner Zeitung:

»Mit Feuereifer sind Bildungspolitiker als Folge von «Harmos» derzeit damit beschäftigt, Leistungsstandards zu definieren und schul- bzw. kantonsübergreifende Leistungstests zu entwickeln. Gerade die vier Bildungsraumkantone Solothurn, Aargau und die beiden Basel leisten auf diesem Gebiet eine Menge Pionierarbeit. Hinzu kommt der in schöner Regelmässigkeit stattfindende internationale Schüler- und Schulvergleichstest namens Pisa, an dem sich der Kanton Solothurn allerdings – noch – nicht beteiligt. Schweizweit und auch in Solothurn stehen gerade auch Lehrerverbände dieser Entwicklung zunehmend kritisch gegenüber. Prominenten Sukkurs erhalten sie von Mathias Binswanger, Wirtschaftsprofessor an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten. In Vorträgen und Publikationen erläutert er, weshalb der Wettbewerb unter anderem gerade auch im Bildungswesen schädlich und ineffizient ist.»

Der Druck zu mehr Wettbewerb macht auch vor der Schule nicht Halt. Sie stehen dieser Entwicklung kritisch gegenüber – und stossen gerade auch bei Lehrern auf Zustimmung. Wo drückt der Schuh?

Mathias Binswanger: Man spürt gerade bei Lehrpersonen eine sehr grosse Unzufriedenheit. Durch den Wettbewerb und die Bildungsstandards, die es einzuhalten gilt, haben sie immer weniger Zeit, sich ihrer eigentlichen pädagogischen Aufgabe zu widmen. Das ist demotivierend und zudem leidet die Qualität des Unterrichts darunter, wenn Lehrer ständig damit beschäftigt sind, irgendwelche Auflagen zu erfüllen, statt sich mit den Schülern auseinandersetzen zu können.

Sie sehen einen Widerspruch zwischen Bildungsstandards und der pädagogischen Arbeit. Dabei sollen Standards doch den Unterricht verbessern?

Mathias Binswanger: Da muss ich jetzt etwas ausholen. Das Bildungswesen gehört neben dem Gesundheitsbereich und der Grundlagenforschung zu jenen Bereichen der Wirtschaft, in denen es keinen Markt gibt. Überliesse man die Bildung dem Markt, wäre die allgemeine Schulbildung nicht mehr gewährleistet. Durch die Gesetze des Marktes würden jene, die am meisten bezahlen, die besten Leistungen bekommen. Indem Bildung gratis zur Verfügung steht, ist sie in einer bestimmten Qualität für alle erschwinglich. Mit einem funktionierenden Markt ist allerdings immer eine gewisse Effizienz verbunden, die auch Bildungspolitikern erstrebenswert erscheint. Und sie sagen sich: Wenn es hier schon keinen Markt geben kann, dann zaubern wir die Effizienz künstlich herbei, indem wir Wettbewerb inszenieren.

Und dieser inszenierte Wettbewerb ist es dann, der zu «falschen» Standards führt?

Mathias Binswanger: Auf dem Markt kommt die Effizienz dadurch zustande, dass derjenige, der sich am besten an den Bedürfnissen ausrichtet, die höchste Nachfrage und den höchsten Preis erzielt. Dieser Anreiz fällt weg bei einem künstlich inszenierten Wettbewerb. Stattdessen versucht man, die Bedürfnisse künstlich zu erfassen, und definiert irgendwelche Indikatoren, mit welchen die Bildungsqualität gemessen werden soll. Man vergisst dabei aber, dass nur einzelne Aspekte der Qualität gemessen werden können.

Was haben Sie gegen messbare Kriterien? Die Gesellschaft möchte wissen, ob die öffentlichen Gelder richtig investiert werden …

Mathias Binswanger: Die Politik steht heute unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck und will deshalb mit möglichst messbaren Grössen aufzeigen, was man erreicht hat. Da aber Bildungsqualität nur schwer messbar ist, werden mit solch messbaren Indikatoren schnell einmal perverse Anreize geschaffen. Was verstehen Sie unter «perversen Anreizen»? Ein wichtiger messbarer Indikator ist die Zahl der Abschlüsse. So geht es etwa darum, möglichst viele Maturanden zu generieren oder Bachelorund Master Abschlüsse. Wenn Schulen nach solchen Kriterien bewertet werden, dann schafft das den Anreiz, das Anforderungsniveau zu senken. Und zudem werden die Schülerinnen und Schüler einfach darauf trainiert, in den entsprechenden Tests gut abzuschneiden. Um die Qualität von Schulen zu messen, wurde der Pisa- Test eingeführt. Die Gefahr besteht darin, dass Schulen sich nur noch darauf konzentrieren, in diesem Ranking zu reüssieren. Der Unterricht reduziert sich darauf, die erforderlichen Fertigkeiten einzuüben. Andere, nicht messbare Bildungsinhalte hingegen verlieren an Bedeutung.

Sehen Sie da nicht etwas allzu schwarz? Immerhin hat das Bildungssystem in der Schweiz einen sehr guten Ruf …

Mathias Binswanger: Das ist so. Wir sind aber daran, dieses bewährte System zu zerstören, nur weil wir bei internationalen Vergleichen gut abschneiden wollen. Im europäischen Ausland, das viel früher damit angefangen hat, sind die negativen Folgen bereits stark spürbar. Ein prägnantes Beispiel ist Finnland, das im Pisa-Test regelmässig hervorragende Resultate erzielt. So besuchen in Finnland mittlerweile 95 Prozent der jungen Erwachsenen eine Hochschule. Die Hälfte von ihnen schliesst ihr Studium aber nicht ab, zudem hat Finnland eine hohe Jugendarbeitslosigkeit.

Sind Sie grundsätzlich gegen jegliche Standards?

Mathias Binswanger: Es ist durchaus legitim, Schulen aufgrund gewisser Standards zu überprüfen. Wenn zum Beispiel an einzelnen Schulen die Übertrittszahlen ans Gymnasium über längere Zeit vom Durchschnitt abweichen, dann soll man genauer hinschauen. Messresultate dürfen aber nie zu einem Schulranking führen. Zudem muss man sich bewusst sein, dass sie nur Zusatzinformationen liefern und nicht mit Qualität gleichgesetzt werden können.

Führt die Standardisierung der Bildung letztlich nicht auch zu einer Gleichschaltung von Lehrpersonen und Schülern?

Mathias Binswanger: Absolut, die Individualität sowohl aufseiten der Lehrpersonen als auch der Schüler geht verloren. Für eine hohe Bildungsqualität braucht es aber eine gewisse Vielfalt der Inhalte und Methoden. Die zunehmende Kontrolle der Lehrerschaft führt auch dazu, dass sich gerade die besten und motiviertesten Lehrer aus dem Beruf zurückziehen. Sie haben am allerwenigsten Lust, ihre Arbeit ständig aufgrund irgendwelcher Indikatoren überprüfen zu lassen.

Institutionen, die Nachhilfeunterricht erteilen, haben derzeit Hochkonjunktur. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Mathias Binswanger: Durch das Hochspielen der schulischen Bildung etabliert sich ein Wettbewerb unter den Eltern. Wenn immer möglich sollen ihre Kinder ins Gymnasium gehen und danach studieren. Dieser gesellschaftliche Trend übt einen hohen Druck auf die Jugendlichen aus und führt zudem zu einer Abwertung der traditionellen Berufslehre. Dies, obwohl wir vom Ausland gerade wegen unseres immer noch funktionierenden Systems bewundert werden.

Was zeichnet ein gutes Bildungssystem aus?

Mathias Binswanger: Eine hohe Bildungsqualität zeigt sich eben gerade nicht in der Anzahl Studierender oder der Anzahl von Uni oder Fachhochschulabschlüssen. In einem Massenbildungssystem verlieren die Abschlüsse zwangsläufig an Wert. Wir sollten uns auch davon verabschieden, bei Bildungsvergleichen gut abzuschneiden. Stattdessen muss sich unser Bildungssystem nach den tatsächlichen Bedürfnissen ausrichten. Unsere Wirtschaft ist auf eine Vielfalt an Qualifikationen angewiesen. In vielen Jobs braucht es vor allem praktische Fähigkeiten, wie sie in einer Berufslehre erlernt werden können. In eine falsche Richtung zielt die Akademisierung gewisser Berufe, zum Beispiel im Bereich der Krankenpflege. Der Trend zu einer einseitigen Ausrichtung auf die schulische Bildung führt schliesslich auch zu einer Verteuerung zahlreicher Dienstleistungen.»

Nachsatz des infosperber-Autors:

Die jetzt immer öfter auch in Europa auftauchende Forderung, an den Universitäten die Geistes- und Sozialwissenschaften zu reduzieren und das dafür aufgewendete Geld in für die Wirtschaft «nützlichere» Disziplinen zu investieren, ist ein weiterer Problemkreis, den es genau zu beobachten gilt. Und die selbst in der Schweiz nun auf dem Tisch liegende Forderung, die Bildung zu «verkaufen» statt als «Service public» zu betrachten, lässt alle roten Warnlampen aufleuchten.

Zu was solche Entwicklungen führen können, zeigt das Beispiel der USA. Siehe dazu weitere infosperber-Beiträge (unten zum Anklicken).


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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