Der Spieler: 16 Köpfe gleich 16mal Leidenschaft fürs Spiel
«Die Video- und Computerspiele boomen und verdrängen das klassische Brettspiel. Wie lange gibt es dieses noch?» Unzählige Male ist mir diese Frage schon gestellt worden, in privaten Gesprächsrunden, an Veranstaltungen, in Zeitungs- und Radiointerviews. Ehrlich: Sie langweilt und nervt mich, besonders, wenn sie, wie es in den vergangenen 25 Jahren oft vorgekommen ist, von professionellen Journalistinnen und Journalisten gestellt wird, die eigentlich über das Thema recherchiert haben müssten, bevor sie dazu mit jemandem ein Interview führen. Hätten sie das getan, hätten sie ohne grossen Aufwand zur Kenntnis nehmen können, dass es den vielzitierten Verdrängungskampf gar nicht gibt. Die beiden Spielwelten – hier die klassisch-analoge und dort die digitale – existieren im Gegenteil friedlich nebeneinander und profitieren gegenseitig voneinander. Und: Beiden geht es gut, dem Brettspiel sogar boommässig gut.
Anzeichen für die Hochkunjunktur der Spiele gibt es viele. Dazu gehören die vielen Spieleclubs und -cafés, in denen sich täglich und wöchtentlich Menschen zum Spielen treffen. Oder dass vermehrt in Familien oder unter Freunden gespielt wird. Dass, wie im vergangenen Oktober, rund 200’000 Menschen nach Essen im Ruhrgebiet fahren, um dort an der Spiel’19 neue Spiele kennenzulernen. Dass dort über 1000 Gross- und Kleinverlage ihre Produkte ausstellen, davon rund 1500 Neuheiten. Dass die Welt des klassischen Spiels international vernetzt ist wie nie zuvor in der Geschichte und dass neue Spielideen Menschen in Europa, Asien, Nord- und Südamerika über alle Grenzen hinweg miteinander verbinden.
Motor der Entwicklung
Motor dieser Entwicklung ist die deutschsprachige Spieleszene, und das seit über einem Vierteljahrhundert. Prägende Köpfe dieser Szene präsentiert jetzt der reich illustrierte Band «Zeit für Brettspiele». Autoren sind der Kulturwissenschaftler Jörn Morisse und und der Fotograf Felix Gebhard. Dass die beiden von aussen kommen, finde ich schon mal positiv. Denn diese Szene, in der jeder fast jeden kennt, leidet nicht unbedingt an einem Übermass an Selbstkritik. Für ihren Aussenblick haben die Autoren 16 Gesprächspartner nach ihren «persönlichen Vorlieben» und ihrem «biographischen Zugang zum Thema» ausgewählt.
Die Lektüre der 16 Porträts vermittelt einen hervorragenden Eindruck von dem, welche Leidenschaften diese Szene verbinden und gleichzeitig stark machen. Es sind dies die gemeinsame Vorstellung über die kulturelle, zivilisatorische und soziale Bedeutung des klassischen Gesellschaftsspiels sowie dessen Anerkennung als wichtiges Freizeitmedium, ferner die unermüdliche Suche nach neuen Ideen, der Drang nach Austausch und entsprechenden Plattformen sowie das Festhalten an bestimmten Qualitätsstandards.
Austausch im Grossen und im Kleinen
Wenn Stefanie Markwardt, Mitglied der Jury «Kinderspiel des Jahres», in ihrer Schule eine Spiele-AG betreibt, tut sie im Grunde genommen – wenn auch in völlig anderen Dimensionen – nichts anderes als Dominique Metzler, die als Leiterin des Friedhelm Merz Verlags die Internationalen Spieltage «Spiel» in Essen organisiert. Beide bieten Menschen die Möglichkeit, sich zum Spielen zu treffen, die eine für eine Gruppe von Kindern, die andere für zigTausende von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus der ganzen Welt. Ob grosse oder kleine Organisation, entscheidend für die Power in der Spieleszene ist der Austausch. Dafür stehen die beiden Porträts im Buch.
Ein ganz anderes Beispiel zeigt, wie der Beruf eines Spielredaktors weit über das hinausgeht, was man gemeinhin als Job bezeichnet. Ich meine Stefan Brück, verantwortlicher Redaktor bei der Ravensburger Verlagstochter alea. «Ich bin sozusagen alea», stellt er sich selber vor, was er auch tatsächlich ist. Er sei ein «Bessermacher», sagt er an anderer Stelle. In dieser Eigenschaft müsse er «das zentrale Element des Spiels erkennen, es herausarbeiten und so funktionell wie möglich machen». Ähnliches ist auch aus den Porträts von Britta Stöckmann, Redaktorin bei Huch, und von Ralph Querfurth, Redaktor bei Kosmos, zu erfahren.
Qualität muss stimmen
In Sachen Leidenschaft müssen sich die Spielautorinnen und -autoren vor den Verantwortlichen in den Redaktionen überhaupt nicht verstecken. Stefan Feld und Michael Menzel beschreiben im Buch, wie sorgfältig sie ihre Ideen entwickeln, wie sie an Details feilen, ihre Entwürfe testen und ausprobieren, bis sie den «magischen Moment» gefunden haben, der letztlich darüber entscheidet, ob ein Titel die Spielenden anspricht oder nicht. Allerdings muss dazu auch die technische Qualität des Produkts stimmen, vom Spielbrett über das Material bis hin zum Karton der Verpackung. Was dafür geleistet werden muss, erzählt Dirk Meineck, Vertriebsleiter Spieleprdouktionsservice bei Ass/Altenburger. Er berichtet von den Pannen bei den ersten Produktionsaufträgen, weil man als Newcomer unter anderem nicht genau wusste, «wie die Pappe mit den unterschiedlichen Luftfeuchtigkeiten reagiert». Im Gespräch mit den Kunden habe man diese Probleme jedoch lösen können.
Meineck sagt von sich, er könne nach 27 Jahren im Beruf am Material erkennen, von welchem Hersteller ein Spiel komme: «Das sieht man, riecht man, fühlt man.» Wenn so einer bei einem vergleichsweise kleinen Bestandteil eines Spiels dann zwei Jahre lang tüftelt, bis er mit der Qualität zufrieden ist, muss er richtig angefressen sein.
Diese Eigenschaft braucht auch, wer Mitglied der Jury «Spiel des Jahres» ist oder gar an deren Spitze steht, wie derzeit Harald Schrapers. Er spiele um die 200 unterschiedliche Spiele im Jahr, sagt er. Bei vielen stelle sich sehr schnell heraus, dass sie uninteressant seien. Aber «andere, die in den Fokus der Empfehlungsliste, Nominierungsliste für den Hauptpreis geraten, muss man sehr oft mit unterschiedlichen Gruppen spielen, um zu überprüfen, ob sie eine Auszeichnung verdienen». Als ehemaliger Jury-Vorsitzender kenne ich diesen Druck aus eigener Erfahrung, auch die Hoffnung darauf, in den Sommerferien jene Titel auf den Tisch zu bringen, die man aus purer Freude am Spielen wieder einmal spielen möchte. Vielleicht ist man wie Schrapers in der glücklichen Lage, einen Sohn zu haben, dem man endlich mal «Dominion» beibringen könnte…
Gesellschaftspolitisches am Rande
Das Buch hätte seine Ansprüche nicht erfüllt, würde es nicht auch topaktuelle Themen innerhalb der Spielewelt abdecken. So die vermehrte Vorfinanzierung von Spielen über Crowdfunding, die querbeet mit allen damit verbundenen Chancen, Risiken und Mängeln angesprochen wird. Im Porträt von Johannes Jaeger und Jan Cronauer, die den bekannten Videoblog Hunter & Cron betreiben, erhalten Leserinnen und Leser einen spannenden Einblick in die Arbeitsweise eines für die Entwicklung der Spieleszene immer wichtigeren Mediums.
Nur am Rande angesprochen hingegen werden gesellschaftspolitische Fragen, welche derzeit die öffentliche Debatte beherrschen, wie etwa der Klimawandel oder die Gleichberechtigung. Eine der wenigen Ausnahmen bildet der eben erwähnte Johannes Jaeger, der auf die eurozentrische Perspektive in den meisten Siedler- und Kolonisierungsspielen hinweist. Diese Problematik sei ihm jedoch erst mit dem neuen «Spirit Island» aufgefallen, bei dem die Perspektive umgedreht werde und die Teilnehmenden die Invasoren vertreiben müssten. Bei diesem Spiel «stehen wir endlich mal auf der richtigen Seite», sagt Jaeger, fügt aber gleich bei: «Mir geht es gar nicht darum zu sagen, herkömmliche Spiele mit Kolonialismus-Thema sind böse. Im Gegenteil, ich finde es gut, dass man bei Brettspielen nicht dieses Political-Correctness-Denken hat, sondern dass es möglich ist, die Sachen durchzuspielen und darüber zu diskutieren. Brettspiele sind keine Hetzschriften, die historische Zusammenhänge leugnen. Spiele sind ein Kommunikationsmittel, ein Kommunikationsangebot.»
Steilvorlage für Nürnberg
Die Aussage könnte auch eine Steilvorlage für Karin Falkenberg sein, die Leiterin des Spielzeugmuseums und des Deutschen Spielarchivs in Nürnberg. In ihrem Beitrag stellt sie die Frage: «Wie kann das Museum unserer Stadtgesellschaft als Diskursfläche dienen?» Eine mögliche Antwort könnte lauten: Indem es immer zur öffentlichen Debatte stellt, wie in den Spielen die gesellschaftspolitische Realität abgebildet und welche Botschaft damit vermittelt wird. Damit würde die Diskussion um eine wichtige Dimension erweitert. Und gleichzeitig um ein Mehrfaches spannender, weil sich, wie dieses empfehlenswerte Buch einmal mehr zeigt, bei der Beschäftigung mit der Frage, warum der Mensch spiele, alle ziemlich einig sind.
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Jörn Morisse und Felix Gebhard: Zeit für Brettspiele. 16 Porträts. Ventil Verlag Mainz 2019. ISBN 978-3-95575-119-7. 171 Seiten, ca. Fr. 40.-
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.